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Birnbaeume bluehen weiß

Birnbaeume bluehen weiß

Titel: Birnbaeume bluehen weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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oder Nein?«, fragte Jan.
    »Es ist Mjo«, sagte Gerson.
    »Sonst sind wir hier weg wie nix. Ich habe zu Hause noch genug zu tun.« Opa ging es gerne hart an.
    »Nein«, sagte Gerson.
    »Gerson muss sich noch ein wenig an alles gewöhnen«, sagte Gerard.
    »Ja«, sagte Kees. »Gewöhnen.«
    Beim Essen hatte Gerson nichts gesagt. Durch die Pflaster auf seinen Augen konnten wir nicht gut sehen, ob er grübelte. Vielleicht musste er sich ganz aufs Essen konzentrieren. Wir hatten ein paarmal versucht, mit geschlossenen Augen zu essen, und das war ganz schön schwierig. Wir stachen uns mit der Gabel in die Lippen und schnitten ständig ins Leere. Dabei hatten wir zwei Arme. Gerson hatte nur einen, und dann auch noch den linken. Seit Anna und Jan bei uns wohnten, saß Anna an ihrem festen Platz am Tisch, neben Gerson. Sie schnitt sein Fleisch in Stücke und drehte ab und zu Gersons Teller unter seiner stochernden Gabel, ohne dass er es merkte. Anna war seine Oma, aber jetzt spielte sie Mutter.
    »Wie macht man das?«, fragte Gerson widerwillig. Er hielt den Kopf schief.
    »Tja«, antwortete Gerard. »Das braucht Zeit. Man gewöhnt sich von selbst daran, weil man jeden Tag etwas lernt, jeden Tag einen Schritt weiterkommt.«

    Gewöhnen. Wenn es nur um Zeit geht, ist das Entstehen einer harten Kruste auf einer Schürfwunde genau so was. Letztendlich behält man höchstens ein Stückchen andersfarbene Haut übrig. Man weiß, dass irgendwann mal was passiert ist, durch diese andere Farbe, aber die Wunde ist verschwunden, verschluckt von der gesunden Haut, verschluckt von der Zeit. Wir sind übersät mit solchen Flecken. Auf unseren Knien, Ellbogen, Händen. Überall. Die dazugehörigen Stürze haben wir vergessen.
    Man sagt, dass die Zeit alle Wunden heilt. Ein entsetzlich abgedroschener Satz, den Leute sagen, wenn ihnen wirklich überhaupt gar nichts anderes einfällt. Er stimmt auch nicht. Es gibt Leute, die an ihren Wunden sterben, und sobald man tot ist, gibt es da wohl kaum noch was zu heilen. Gerson lebte, seine Wunden heilten, und jetzt musste er sich an die Folgen dieser Wunden gewöhnen. Wie sollte man sich je daran gewöhnen, nie mehr sehen zu können? Wie sollten wir uns je an einen blinden Bruder gewöhnen? Wie sollte Gerard sich an einen blinden Sohn gewöhnen?
    Und noch etwas: Wann ist man mit dem Gewöhnen fertig? Was ist der Zeitpunkt, an dem man sich an etwas gewöhnt hat? Hatten wir uns zum Beispiel daran gewöhnt, dass unsere Mutter weg war? Wir glauben es nicht. Wir dachten oft an sie, wir vermissten siemanchmal, wir waren wütend auf sie. Wir finden nicht, dass wir uns daran gewöhnt haben, dass sie nicht mehr da ist. Was ist die Endstation von Gewöhnung?

    Der Einzige, der schon ein gutes Stück weitergekommen war, war Daan. Wir scharwenzelten alle ein wenig unbeholfen um Gerson herum, wussten noch nicht, wie wir mit der neuen Situation umgehen sollten. Daan hatte den Dreh gefunden. Anfangs war er scheu. Wenn Hunde verlegen sein können, dann war er verlegen gewesen. Danach hatte er den neuen Gerson vorsichtig beschnüffelt und anscheinend begriffen, dass er seine Rolle anpassen musste. Früher war es Gerson gewesen, der Daan beschützte und tröstete, jetzt war es Daan, der Gerson bewachte. Früher war Daan Gersons Hund, jetzt war Gerson Daans Mensch. Er lag unter Gersons Stuhl, wenn wir aßen. Das hatte er früher nie gemacht. Morgens saß er geduldig im Flur vor Gersons Zimmer und wartete. Er beobachtete Nachbarn und Nachbarinnen aufmerksam, verfolgte jede Bewegung und spitzte ständig die Ohren. Schlichtweg unfreundlich war er zu Anna und Jan, die er wie Eindringlinge behandelte. Die Bälle und Stöcke, die wir für ihn durch den Garten warfen, brachte er nicht gerade mit viel Überzeugung zurück. Vielmehr ein wenig abwesend und ohne Interesse, als wenn er wichtigere Dinge zu tun hätte.

    »Und doch finde ich es seltsam«, sagte Jan später am Abend. »Wir sind doch entwickelte Lebewesen? Alles passt zusammen, und nichts ist überflüssig. Warum haben wir dann eine Milz? Warum haben wir so einStück Fleisch im Körper, wenn es keinen Zweck erfüllt?«
    »Jetzt fängst du auch schon an, immer diese Milz«, sagte Anna. »Wenn Gerson schon mal was sagt, erzählt er auch von nichts anderem. Alle müssen sich die Geschichten über seine Milz anhören, während sie die Augen nicht von den Pflastern abwenden können.«
    Gerson lag oben und schlief. Er schlief sehr viel in dieser Zeit. Er ging früh zu

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