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Birnbaeume bluehen weiß

Birnbaeume bluehen weiß

Titel: Birnbaeume bluehen weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Einen Moment später ist er wieder da.
    »Ich weiß nicht mal, wie du aussiehst«, sage ich.
    »Unheimlich gut«, sagt er. Witzbold. »Willst du es fühlen? Das musst du doch lernen, Menschen zu fühlen statt zu sehen.«
    Ich höre, dass er sich auf den Stuhl neben meinem Bett setzt. Ich spüre seinen Atem auf meinem Gesicht. Er raucht nicht. Er fasst meine linke Hand und legt sie auf seinen Hals. Ich fühle die stoppelige Haut über seinem Kehlkopf. Meine Hand wandert nach oben und folgt dann der Linie seines Kiefers. Auf halbem Wege halten meine Finger in einem kurzen, störrischen Bart inne. In seinem Ohr hängt was, etwas Kleines. Ich muss mich sehr anstrengen, um zu fühlen, was es ist, meine Fingerspitzen sind nicht sensibel genug. »Ein Kreuz«, sage ich. Er nickt. Er hat eine gerade Nase, glaube ich, und ganz glatte Augenlider mit langen Wimpern. Über seine Stirn ziehen sich zwei Falten. Zum Schluss streiche ich über sein Haar, das ganz kurz geschnitten ist.
    »Jetzt weißt du, wie ich aussehe«, sagt er.
    »Na ja«, sage ich. »Ich habe eine vage Vermutung.« Morgen gehe ich nach Hause. »Vielen, vielen Dank für alles.«
    »Ich hab es gerne gemacht«, sagt Harald.
    »Kannst du mir noch einmal einen Kuss geben?«, frage ich.
    »Ich habe dir noch nie einen Kuss gegeben«, sagt er.
    »Kannst du mir dann zum ersten Mal einen Kuss geben?«
    »Ja.« Er küsst mich. Jetzt weiß ich auch, wie sich seine Lippen anfühlen. Die hatte ich gerade ausgelassen.

Schmollen
    Wir entdeckten, dass es verdammt schwierig ist, etwas zu sagen, ohne auf Sehen anzuspielen. Außerdem ist es so, dass – wenn etwas verboten ist, wenn man aufpassen muss, etwas nicht zu sagen – es einem umso leichter rausrutscht. Wir fanden, dass wir kein wachsames Auge mehr auf etwas haben konnten. Wir durften ganz bestimmt keine blinden Flecken entdecken. Niemand war uns ein Dorn im Auge. Wenn wir etwas verstanden hatten, waren die Wörter einsehen und durchschauen tabu. Wir kriegten sogar einen Kloß im Hals und Magendrücken, wenn der Nachrichtensprecher über Betrachter, Beobachter oder Augenzeugen sprach. Wir entdeckten, dass wir viel öfter, als wir dachten, Dinge sagten wie: »Mal sehen, wie es läuft«, oder (am Telefon): »Ich schau mal eben, ob Gerard zu Hause ist«. Es machte uns verrückt. Gucken, starren, spähen. Beäugen, anschauen, betrachten, beobachten. Beaufsichtigen, abgucken, angaffen, besichtigen. Wir verloren niemanden aus dem Auge, drückten nie ein Auge zu, und ein Augenblick wurde ein Moment. Oma Anna hatte die seltsame Gewohnheit, Gerson ihren »Augenstern« zu nennen. Sogar jetzt, wo er dreizehn war und einen Kopf größer als sie. Er war und blieb ihr jüngster Enkel. Wir konnten sie davon überzeugen, dass das jetzt wirklich nicht mehr ging und sie sich eventuell ein anderes Wort ausdenken musste.
    »Glaubt ihr eigentlich, dass ich blöd bin«, fragte Gerson. »Könntet ihr bitte normal reden?«
    Sogar jetzt, wo er nichts sah, durchschaute er uns. Er hatte immer schon gespürt, wenn wir ihm einen Gefallen tun wollten, und das konnte er nach wie vor. Was seine Laune nicht gerade verbesserte.

    Es war Mitte Juni. Aus dem grünbraunen Flaum auf den Zweigen der Buche waren rotbraune Blätter geworden. Die Lämmchen hatten sich an die frische Luft und das Gras gewöhnt, sprangen nicht mehr so tollpatschig herum und waren innerhalb eines Monats fast schon richtige Schafe geworden. Die kahlen Bäume auf dem Friedhof schräg gegenüber hatten sich in einen Wald verwandelt. Kurz gesagt, der Frühling war in den Sommer übergegangen.
    »Was habe ich vom Sommer«, sagte Gerson. Er saß auf einem Stuhl im Garten. »Ich sehe nichts.«
    Wir saßen auch im Garten und kniffen die Augen fest zu. Das Sonnenlicht legte sich rot auf unsere Augenlider.
    »Ist es wirklich ganz schwarz?«, fragte Kees. »Oder doch noch ein bisschen rot oder orange?«
    Gerson antwortete nicht. Auf seinen Augen klebte je ein rundes Pflaster. Er saß ein wenig steif im Gartenstuhl, als wenn er Angst hätte, dass die Pflaster von seinen Augen fallen würden. Wenn er sich die Mühe machte, den Kopf in die Richtung von jemandem zu drehen, der etwas gesagt hatte, täuschte er sich oft. Er erinnerte uns dann an blinde Leute, die man ab und zu auf der Straße sieht. Die starren immer ins Leere, na ja, was heißt starren, jedenfalls halten sie den Kopf ein wenig schräg, fangen aufmerksam alle Worte auf oder sind bange, das kleinste Geräusch zu verpassen.Anders

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