Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
auszudenken, wohin der kleine Junge unterwegs sein mochte und was zwischen ihm und dem Mann vorging. Wahrscheinlich gar nichts, das war mir klar. Ich war selber schon von meinem Vater angeschnauzt worden, mit Tränen als Folge; welcher Junge war das nicht? Aber ich konnte meine Beklemmung nicht abschütteln. Ich war neun, ich neigte zu nervösen Phantastereien, Alpträumen. Ich fing an, mir vorzustellen, dass ich Zeuge von etwas Entsetzlichem geworden war. Wenn der Mann nun gar nicht der Vater des Jungen war? Den ganzen Rest der Fahrt kreisten meine Gedanken um diesen Pick-up, um den Mann und den Jungen, die sich immer weiter von uns entfernten. Mit jeder Meile wurde ich mir sicherer, dass der Junge einer Gefahr entgegenfuhr. Oder doch nicht? Es schien mir ein Rätsel, das zu lösen ich in der Lage hätte sein sollen, aber je länger ich es im Kopf herumwälzte, desto weniger hätte ich sagen können, was ich eigentlich gesehen hatte.
Im Jahr darauf trennten sich meine Eltern, und mein Vater zog fort. Wie ich befürchtet, nein, wie ich vorausgesehen hatte, verschwand er immer weiter aus unserem Blickfeld, bis er ein Fremder geworden war, Absender knapper Glückwunschkarten. Den Rest meiner Kindheit war ich mit mir selbst beschäftigt, mit meinen Träumen, meiner Verlorenheit. Aber das Gesicht des Jungen, erschreckt, verängstigt im Scheinwerferlicht – dieses Stückchen Realität war zu mir durchgedrungen. Das bedeutete mir etwas. Manchmal sah ich eine Milchtüte und überlegte, ob eins der Jungengesichter darauf wohl das seine war. Aber ich erinnerte mich nur undeutlich an seine Züge. Es hätte jeder Junge sein können. Der Mann hätte jeder Mann sein können. Sie hätten überallhin unterwegs sein können, zu allem. Ich sah den Jungen am Ufer eines Gebirgsbachs liegen, weiß wie ein Schneebrett, mit dem Gesicht nach unten. Dann wieder saß er neben mir und malte Schnörkel in sein Algebraheft.
Vielleicht, dachte ich, kann ich ihm helfen. Vielleicht kann ich ihn irgendwo hinbringen. Vielleicht kann ich ihn aus meinem Kopf bringen. Aber ich zaudere. Wäre es besser, die Wahrheit zu wissen? Oder sie nicht zu wissen?
Und immer wieder denke ich: mein Junge. Was passiert jetzt mit meinem Jungen?
I.
Der Junge ist aufgekratzt, als sie aus Chicago herausfahren; er plappert eine geschlagene Stunde lang. Der Mann raucht, lächelnd, und lenkt den Pick-up mit einer Hand, während er der Stimme des Jungen lauscht. Der Junge wohnt in einem Vorort im Norden und bekommt die Wolkenkratzer im Zentrum nicht oft zu sehen; er reckt den Kopf aus dem Fenster, um besseren Blick auf den Sears Tower zu haben, als sie daran vorbeifahren.
Der ist eintausendvierhundert Fuß hoch, sagt der Junge. Er hat blasse Ringe um die Augen; seine Backen sind knallrot verbrannt. Seine Mutter war am Wochenende mit ihm am See, baden. Der Junge ist strohblond und hellhäutig, und von dem Sonnenbrand, den er sich am See geholt hat, ist seine Haut mit Blasen überzogen. Der Mann sieht ihn lebhaft vor sich, dort am Strand. Wie er eine Weile aufs Wasser hinausspäht, das ihn aber nicht lange fesseln kann. Wie er durch den Sand tapst und die Leute anstarrt – der Junge ist unendlich neugierig, und weniger diskret als die meisten Kinder. Wie er über die eigenen Füße stolpert, auf dem Bauch landet, alle viere von sich gestreckt. (Im letzten Jahr ist er sehr gewachsen, und jetzt hapert es mit der Koordination; das kommt erst wieder ins Lot, schätzt der Mann, wenn er dreizehn, vierzehn wird, der Ärmste. Bei ihm selber war das jedenfalls so.) Und er sieht ihn vor sich, wie er schwimmt: hundspaddelnd, das Kinn hoch aus dem Wasser gereckt, stolz und furchtsam zugleich.
Egal in welcher Umgebung, der Junge passt nirgendwo richtig dazu. Der Mann liebt ihn dafür, liebt ihn für die Promptheit, mit der diese kleinen Bilder sich einstellen. Der Junge behauptet seinen Platz in seinen Gedanken.
Der Mann legt dem Jungen die Hand auf die Schulter, zieht sie dann rasch wieder zurück: ein Stupser beinahe. Der Junge dreht sich um, schaut ihn an, fragt: Was? Als der Mann nur lächelt und die Achseln zuckt, vertieft er sich erneut in die Aussicht.
Der Mann lächelt weiter, lächelt den Hinterkopf des Jungen an, die Haarbüschel, die der Fahrtwind hochhebt, so leicht, so unbeständig wie Federflaum. Und auch so unwiderstehlich. Am liebsten würde der Mann seine Finger hindurchflechten. Er legt die Hand ans Lenkrad und befiehlt sich, gelassen zu bleiben, sich aufs
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