Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
Fahren zu konzentrieren. Sie haben einen weiten Weg vor sich. Sie haben Zeit.
Und das war wirklich so abgemacht?, erkundigt sich der Junge.
Sie haben Chicago hinter sich gelassen, fahren an spätsommerlichen Maisfeldern vorbei nach Südwesten. Die Stadt verliert sich hier schnell; alles verschwindet ins Weite. Eine mittelwestliche Diesigkeit löscht jeden Hinweis auf eine Welt aus, die mehr als zwei Meilen entfernt ist; die Sonne scheint von nirgendwoher. Ein paar Autos schweben vor ihnen durch den Dunst. Keine Polizei zu sehen – der Verkehr rauscht mit achtzig Meilen die Stunde dahin.
Der Mann stellt das Radio leiser und tut so, als hätte er nicht gehört. Vor einer halben Stunde hat das funktioniert; der Junge hat das Interesse verloren. Die Mutter des Jungen meint ja, dass er an ADS leidet, aber das sieht der Mann anders: Der Junge ist helle und wach, mit seinen Gedanken immer schon ein Thema weiter – das zu einem Defizit zu erklären, hilft dem Jungen wohl kaum. Trotzdem, der Mann ist sich nie sicher, auf was für Fragen er sich als Nächstes gefasst machen muss. Ein bisschen fürchtet er sich, was dem Jungen noch alles einfallen könnte – aber gleichzeitig freut er sich auch darauf, ganz gleich, was es sein wird.
Nicht zum ersten Mal denkt er, dass der Junge an seine Mutter verschwendet ist.
Sag, insistiert der Junge.
Was?
Dass wir verreisen, sagt der Junge. Ich hab Durst.
Ein bisschen noch. Wir müssen bald tanken, dann können wir eine Pause machen. Und unterm Sitz ist noch Pepsi.
Die ist mir zu warm. Die letzte jedenfalls.
In Ordnung. Beim nächsten Halt, da wird sie kalt. Der Mann ist versucht, noch ein bisschen weiter mit dem Reim herumzuspielen, aber das ist nicht die Art von Humor, die bei dem Jungen verfängt.
Was ist das?, fragt der Junge.
Neben der Straße liegt eine kleine Weide mit Koppelzaun. Hinter dem Zaun grasen zwei Lamas. Ein drittes beobachtet die vorbeifahrenden Autos, gedankenverloren, tränenden Blicks.
Sag du’s mir, sagt der Mann. Ich wette, du weißt es.
Irgendwo hab ich solche schon mal gesehen.
Ich geb dir einen Tip. Sie kommen nicht ursprünglich von hier.
Doch, jetzt fällt’s mir ein. Mit L, oder?
Warm.
Lavas?
Fast. Lamas.
Der Junge dreht sich noch einmal nach ihnen um.
Sie sind hübsch, nicht?, sagt der Mann.
Mmhm, sagt der Junge. Ich hätte mein Lexikon mitnehmen sollen.
Wir können sicher eins auftreiben.
Aber keins mit meinen Notizen drin.
Der Junge kommentiert die Dinge, die er liest, mit einem seltsamen Gemisch aus Symbolen und Chiffren: Sternchen und Wellenlinien und Ausrufezeichen. Der Mann hat ihn gefragt, was sie bedeuten, aber der Junge verrät es ihm nicht.
Bei der nächsten Gelegenheit fährt der Mann vom Highway herunter und zu einer Ansammlung belebter Fast-Food-Restaurants und Raststätten. Das größte Rasthaus wirbt mit der Aufschrift »Stopping-Center«, und mindestens hundert Autos parken auf einem Parkplatz, auf den noch viele mehr passen. Der Mann fragt den Jungen, ob er aufs Klo muss; der Junge sagt nein. Der Mann fragt, ob er mit reinkommen möchte, und auch das will der Junge nicht. Er wirkt schläfrig. Der Mann sagt ihm, er soll die Türen verriegeln.
Der Mann geht, sich das Hemd vom Oberkörper zupfend, über den glühendheißen Asphalt zu dem kleinen Selbstbedienungsladen mit Cafeteria, der zu der Tankstelle gehört. Niemand nimmt Notiz von ihm. Der Mann weiß, dass er nicht sonderlich viel hermacht, und hier neben dem Highway erscheinen ihm die Männer, die rund um ihn kommen und gehen, allesamt männlicher als er, beachtenswerter. Schmerbäuchige Fernfahrer, leer blickende Reisende, seit Stunden unterwegs. Ein paar Knaben im College-Alter mit fettigen Haaren und Batik-T-Shirts stehen vor den Videospielautomaten, vor- und zurückschaukelnd, mit eingezogenen Köpfen. Der Mann nimmt zwei Flaschen kalte Pepsi aus einem Kühlregal, und sein Blick fällt auf einen Ständer mit Zeitschriften und ein paar Büchern. Ein kleines Lexikon ist darunter, eine Taschenbuchausgabe, und daneben Hefte mit Kreuzworträtseln. Er nimmt das Lexikon und mehrere von den Rätselheften – so etwas könnte dem Jungen gefallen, denkt er. Und eine Packung Stifte und einen Block nimmt er auch noch mit. Die Kassiererin ist ein junges Mädchen, die für sich allein an einer Kasse sitzt, abseits der Cafeteriatheke; sie wirkt gelangweilt und desinteressiert und sieht nicht mal auf, als er seine Einkäufe auf das Band legt. Er zahlt bar.
Auf dem
Weitere Kostenlose Bücher