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Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Titel: Bis an das Ende der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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sieht Leute im Fernsehen umkommen, und er weiß, dass Tiere geschlachtet werden müssen, damit wir Fleisch haben. Er weiß, dass sein Onkel Gaspar gestorben und in den Himmel gekommen ist, noch bevor er geboren wurde – dass er an einem hohen Berg abgestürzt ist, als er mit Papa Klettern war. Aber wie abstrakt oder konkret ist das alles für ihn? Jetzt hat er genau das ausgesprochen, was ich zwischen den Zeilen zu Karel zu sagen versuche.
    Ja, sage ich und sehe Stane dabei ins Gesicht. Das ist eine sehr gefährliche Tour, die Papa geht. Sie war es schon, bevor das Funkgerät ausgefallen ist, und jetzt ist sie es erst recht. Zum Grat hochzusteigen ist riskant, und wenn er sich etwas tut, kann er nicht um Hilfe rufen.
    Stane lässt sich das durch den Kopf gehen, den Mund angestrengt verzogen. Das ist sein Denkgesicht, das ich fast nie sehen kann, ohne ein Lächeln zu unterdrücken. Heute schon.
    Dann sollte er heimkommen, sagt Stane. Über den Grat.
    Ja, das finde ich auch.
    Kann ich das Bild sehen?
    Stane hält das Photo auf dem Schoß, und Karel schaut ihm über die Schulter, während Stane mit seinem kleinen, eckigen Finger die Route seines Papas nachfährt.
    Außer dem Funkgerät hat er nichts verloren?, fragt mich Karel jetzt mit heiserer Stimme.
    Ich weiß es nicht. Er hat Hugo nur ganz kurz signalisiert.
    Hat er auch was für uns signalisiert?, fragt Stane.
    Jozef lässt uns Nachrichten zukommen, teils über Hugo, teils über die Website, die Hugo und seine Mannschaft vom Basislager aus auf den neuesten Stand bringen. Die Nachrichten sind nur ein paar Zeilen lang, aber sie sind dennoch Stanes ganzes Glück – wie auch nicht? Genausogut könnte sein Vater ihn aus einem Raumschiff anrufen. Am liebsten würde ich ihn anlügen, aber ich bringe es nicht über mich.
    Nein, sage ich, nichts. Er hatte wohl nicht die Zeit dazu.
    Stanes rosa Fingerspitze wandert über das Photo, über die schwarzen, dreieckigen Felsen der Abschlusswand, die kleinen verschwommenen Eisflecken, über die sich vielleicht eine Route ergeben könnte, vielleicht aber auch nicht. Dann schaut er zu mir und Karel hoch, und so, wie er redet, klingt es, als verfügte er über Informationen, die wir nicht haben; als würde über diese Dinge in den Köpfen kleiner Jungen entschieden.
    Papa schafft das, sagt er. Er ist gut auf Eis.
    Karel wuschelt ihm das Haar und sieht mich über Stanes Kopf hinweg an, mit einem Blick voller Angst und Erleichterung. Er hat keine eigenen Kinder, die ihm solche Fragen stellen. Eltern sind für ihn Zauberer: Stane bei Laune zu halten, das ist ein ähnliches Kunststück, wie sich eine Münze aus dem Ohr zu ziehen.
    Stimmt, das ist er, sage ich meinem Sohn und gebe ihm einen Kuss auf die Stirn und versuche, so überzeugt zu klingen wie er: ruhig und getrost, so als hätten er und ich nicht eben über den Tod seines Vaters geredet.
    Als möchte ich nicht eigentlich toben und schreien und Jozef ein gefühlloses Arschloch nennen, denn das und nichts anderes ist er für mich momentan.
     
    Später geht Stane nach draußen, um mit seinen Plastikmännchen zu spielen; er führt Krieg mit ihnen, quer über das ganze verzwickte Terrain von Garten und Einfahrt bis hinaus auf den niedrigen, bröckelnden Römerwall, der sich die Straße durch unser Tal entlangzieht bis fast nach Kamnik. Die Opferzahlen sind hoch in diesem Krieg; viele von Stanes Männern fallen, nur um am nächsten Morgen von den Toten auferweckt zu werden. Ich kann ihn manchmal hören, wie er unterdrückte Explosionsgeräusche macht, Schreie mimt. Wie naiv von mir. Alle kleinen Jungen interessieren sich brennend für den Tod und all die verschiedenen Arten zu sterben.
    Und wieso eigentlich nur Jungen? Als ich ein kleines Mädchen war, kaum älter als Stane, war ich besessen vom Holocaust. Ich hatte gerade zu malen begonnen; ich füllte Leinwand um Leinwand mit Totenschädeln, Knochen und Schwaden grauen Rauchs, bis meine Mutter mir sagte, wenn ich so weitermachte, müsse ich zum Psychiater.
    Karel sitzt am Küchentisch, einen Kaffee vor sich, einen Stapel Seminararbeiten neben seinem Ellbogen. Aber er tut nur so, als läse er sie.
    Ich kann Abendessen machen, wenn du magst, sagt er.
    Nein, bleib du nur sitzen.
    Wirklich, Ani, du bist schon den ganzen Tag am Rumhetzen. Ruh dich aus und lass mich auch mal was Nützliches tun.
    Karel ist seit fast einer Woche bei uns; er ist am Samstag aus Ljubljana gekommen, einen Tag, bevor Jozef seinen Aufstieg begonnen hat. Jozef

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