Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
Horizont vor ihnen. Den weichen, warmen Nacken des Jungen. Seine Hand auf diesem Nacken. Die Krümmung, mit der jeder einzelne seiner Finger die Wölbung umschließt.
Solos
I.
Spätnachmittags an seinem vierten Aufstiegstag meldet sich das Basislager meines Mannes per Satellitentelefon. Die Nachrichten sind nicht gut. Nachdem er die ganze Nacht durchgeklettert ist, hat Jozef die Westwand des Shipton’s Peak zu zwei Dritteln bezwungen. Damit ist er die Wand höher hinaufgelangt als irgendjemand vor ihm. Aber jetzt streikt sein Funkgerät.
Jozefs Freund Hugo sagt zu mir: Wir haben geredet, und plötzlich war er weg. Er sagt: Natürlich waren wir erschrocken. Aber es gab keine Lawinen in der Wand, und nach einer Weile haben wir ihn mit dem Feldstecher ausgemacht. Als es dunkel wurde, hat er uns dann mit seiner Stirnlampe geblinkt, dass ihm nichts fehlt.
Ich sage es mir vor, immer wieder, bis mein Herz nicht mehr so hämmert: Jozef lebt noch.
Und jetzt?, frage ich.
Hugo nennt mir Jozefs Optionen, und ich schreibe sie auf. Ich nehme diese Anrufe immer in meinem Atelier entgegen, außer Hörweite von Stane, unserem Sohn, der acht ist. Das ist ein Aberglaube von mir; falls etwas passiert ist, will ich mich fassen können, bevor ich unserem Jungen gegenübertrete. Und nachdem Hugo und ich aufgelegt haben, sitze ich eine Zeit lang da und denke nach, was ich sagen soll. Dann nehme ich den Pappordner mit den Bildern und gehe ins Wohnzimmer hinüber. Stane sitzt mit Jozefs Bruder Karel auf dem Sofa und spielt auf Karels Laptop. Sobald er mich sieht, strampelt er sich unter Karels Arm hervor.
War das Hugo?, fragt er. Kann ich auch mit ihm reden? Wieso hast du schon aufgelegt?
Ich werfe Karel einen Blick zu, und er legt Stane die Hand auf den Kopf.
Sei einen Moment ruhig, sagt Karel.
Ich setze mich aufs Sofa, ein Stückchen von Karel entfernt. Ich klopfe auf das Polster zwischen uns, und Stane setzt sich her. Karel legt den Arm um Stane; seine Arme sind so lang, dass seine Fingerspitzen meine Schulter streifen.
Papa geht es gut, sage ich. Aber sein Funkgerät ist kaputt.
Hatte er einen Unfall? Stanes Ausdruck ist eher neugierig als ängstlich.
Nein. Es ist einfach kaputtgegangen. Als es dann dunkel war, hat er Blinkzeichen gegeben, dass ihm nichts passiert ist. Aber es ist trotzdem eine schlechte Nachricht.
Stane beobachtet mich wachsam. Karel zwirbelt an dem Bart über seinem Kinn herum. Er weiß ganz genau, was es bedeutet, wenn das Funkgerät ausfällt. Aber es ist, als wollten sie beide erst hören, wie ich es finde, dass Jozefs Chancen, die von Anfang an schlecht waren, jetzt noch schlechter stehen. Nicht wütend werden, sage ich mir. Wenn ich schon nicht weiß, was ich sagen soll, warum sollten sie es dann wissen?
Ist es gefährlich für Papa?, fragt Stane, jetzt mit deutlich leiserer Stimme.
Ich sage: Ja. Sie benutzen das Funkgerät, um deinem Vater zu sagen, welchen Weg er nehmen muss. Das kann er schwer sehen, wenn er mitten in der Wand ist. Und er kann nicht einfach den Pfeiler wieder runterklettern. Er hat nicht die richtige Ausrüstung dafür. Er wird seine Route ändern müssen.
Ich schlage den Ordner auf, und wir betrachten die Bilder der Westwand, ihre gesamten 3900 Meter Höhe. Bevor er nach Nepal abgereist ist, hat Jozef uns dieses Photo ausgedruckt, mit einem Gitternetz darüber. Hugo hat das gleiche Photo bei sich im Basislager, mit dem gleichen Gitternetz. Bei jedem seiner Anrufe gibt er mir Jozefs Koordinaten durch, und hinterher ziehen Stane und ich eine Linie mit einem Wachsmalstift: seinen Tageskurs. Das Leben meines Mannes, wie eine Aktie an der Börse.
Ich zeige auf ein Planquadrat in der Mitte der Wand, am Fuß eines abschüssigen Eisfelds von einem Kilometer Höhe und Breite.
Papa ist jetzt hier, sage ich. Er kann nicht gerade hochsteigen, wie er eigentlich vorhatte. Also muss er stattdessen schräg über das Eisfeld gehen, bis zu dem Grat dort. Von da kann er entweder heimkommen oder weitergehen zum Gipfel. Gefährlich ist jetzt beides. Es wird nicht leicht für ihn sein, überhaupt bis zum Grat zu kommen.
Stane fragt: Kann er sterben?
Die Frage überrumpelt mich. Jozef hat Stane vor seiner Abfahrt beiseite genommen und mit ihm geredet, über die Westwand und darüber, dass bis jetzt noch keiner sie erstiegen hat. Er hat Stane gesagt, dass es gefährlich ist, dass ihm etwas passieren könnte. Wir sprechen vor unserem Sohn immer nur von Gefahr, nie von Tod. Sicher, er
Weitere Kostenlose Bücher