Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
sage ich mir. Aber ich war eine Stunde weg, und es sind haufenweise Leute im Basislager, alle mit Satellitentelefonen.
Ich glaube nicht daran, aber im Herzen glaube ich es natürlich doch: Ich habe mein Versprechen gebrochen. Ich habe Karel geküsst, und Jozef ist tot.
Fast im Laufschritt erreiche ich den Waldrand, die Straße. Der Wagen hat angehalten, zwanzig, dreißig Meter entfernt. Ich gehe auf ihn zu und sehe:
Ein Kameramann und eine Reporterin stehen am Römerwall, direkt vor einem der hohen, bröckelnden Pfeiler, der drei Meter aufragt. Und an der Pfeilerwand, etwa auf Höhe ihrer Köpfe, hängt Stane. Ich höre die Stimme der Frau, laut genug, dass auch Stane es hören kann: Ganz der Vater, schau dir das an.
Stane klettert. Nicht das Gekraxel, das ich ihn an Baumstämmen habe vollführen sehen. Die Reporterin hat Recht.
Er hatte Unterricht .
Stane hält sich genau auf die richtige Art fest, mit den Daumen über den Fingerspitzen, den Schwerpunkt von der Wand wegverlagert, und dann plötzlich legt er sich schräg, hängt sich in einen Riss, während die Füße in die entgegengesetzte Richtung drücken. Bis ich bei ihm angelangt bin, hat er die Hand schon an der Oberkante des Pfeilers, und dabei stößt er ein Lachen aus, dieses beglückte kleine Jauchzen, das ich so gut kenne.
Die Reporter klatschen Beifall, und der Kameramann geht noch näher heran, und Stane nimmt eine Hand von dem Stein, um zu winken.
Die Reporterin sagt irgendetwas über eine neue Generation, als ich mich an ihr vorbeidränge. Ich packe Stane um die Mitte und zerre ihn von dem Pfeiler herunter. Er ist schwerer, als er einmal war, aber ich halte seinem Gewicht stand, auch wenn es mich beinahe umwirft.
Stellen Sie die Kameras ab, sage ich. Verschwinden Sie. Die Kamera schwenkt zu mir herüber. Die Reporterin fragt, ob ich nicht etwas zu Jozefs heutigem Erfolg sagen möchte. Die ganze Nation schaut zu, sagt sie. Wir sind alle sehr stolz.
Ich wende mich ab, zurück in Richtung Haus, den verdatterten Stane immer noch im Arm. Ich bin so wütend, dass ich fast blind dahinlaufe. Ich stürme an Karel vorbei, der gerade zwischen den Bäumen hervortritt, und ich sage zu ihm: Schick sie weg.
Mama, lass mich los, sagt Stane. Lass mich los.
Ich stelle ihn hin, und dann versetze ich ihm zwei Schläge aufs Hinterteil, kräftige. Die Nachrichtenleute können uns sehen, aber das ist mir gleich. Ich zerre Stane am Arm weiter. Er windet sich, versucht sich loszureißen, ohne zu wissen, warum oder wohin. Ich kann mir nicht helfen. Ich ziehe ihn von der Straße herunter, den Hang hinab zwischen die Bäume, außer Sicht. Und dort schlage ich zu, immer wieder, so lange, bis er aufhört sich zu wehren und zu weinen anfängt. Bis er’s sich merkt.
Dann knie ich mich hin und schlinge die Arme um ihn. Stane riecht nach Kleine-Jungen-Schweiß und Kiefernnadeln. Er versucht erneut, sich loszureißen, aber dann sieht er, dass ich weine, und das beeindruckt ihn mehr als die Prügel. Ich presse ihn an mich, meinen zitternden Sohn.
Er ist ein Mann, der ein Mädchen in einem Café anlächelt, die Augenwinkel gefältelt wie bei seinem Vater. Er schreit einen Namen in stiebenden Schnee, in heulenden Wind, allein.
Mama, sagt er. Was ist denn, ich bin doch nur geklettert.
Und ich sage: Das darfst du nicht, Stane.
Ich halte ihn als Säugling in meinen Armen, strecke ihn zum allerersten Mal Jozef hin. In Jozefs Gesicht zerbirst etwas, als er seinen neugeborenen Sohn nimmt und den Blick dann hebt und mich ansieht – sein erster Vaterblick. Und ich weiß: Mein Mann wird nie wieder klettern, er wird nie wieder ein Risiko eingehen, nun da er seinen Sohn gesehen hat, seinen Augapfel. In mir bebt und pocht alles so sehr, dass ich meine, ich muss sterben vor Liebe. Ich blicke auf Stane in den Armen seines Vaters, und ich denke: Mein süßes Kind, weißt du, was du getan hast? Du hast mir deinen Vater wiedergeschenkt. Du hast uns gerettet. Du hast mich gerettet.
Du darfst das nicht, sage ich in Stanes Ohr. Ich schüttle ihn bei jedem Wort.
Nie, nie, nie.
Im Falle, dass
Kurz nach ein Uhr morgens, eine Stunde, nachdem er die beiden im Leichenschauhaus identifiziert hatte, bog Danny mit seinem Pick-up in Toms und Brynns Einfahrt ein. Ihr schmales Backsteinhaus war dunkel bis auf das erleuchtete Wohnzimmerfenster: Eine Babysitterin hütete Colin, den dreijährigen Sohn. Danny hatte vom Leichenschauhaus aus kurz mit ihr gesprochen, ihr gesagt, er würde gleich da
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