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Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Titel: Bis an das Ende der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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wirkt gleich weniger schön, das Himmelsblau schwerer.
    Das brauchst du nicht, sage ich.
    Nein, sagt er. Aber ich sollte. Ich habe meine Zuständigkeit überschritten, und mir ist hundeelend zumute. Mein Leben ist auch so schon ein Scherbenhaufen, da brauche ich nicht noch das auf dem Gewissen.
    Seine Hand hat sich nicht von meiner wegbewegt.
    Mit zwanzig hätte ich das nicht gelten lassen, ich hätte ihn in meine Arme gezogen – damals hielt ich das noch für ein Allheilmittel.
    Du hast wahrscheinlich Recht, sage ich. Aber denk bitte nicht, das heißt, dass ich es bereue.
    Seine Augen sind jetzt sanft und braun und eine Spur feucht.
    Ganz im Ernst, Karel. Ob du es glaubst oder nicht, ohne dich hätte ich diese Woche nicht durchgestanden.
    Ich hoffe, das stimmt, sagt er und tätschelt meine Hand. Seine weiche Handfläche liegt leicht auf meinen Fingern.
    Dann schließt er die Augen und sagt: Jozef und Gaspar haben einmal versucht, mich zum Klettern zu bringen. Habe ich dir das je erzählt? Wir sind zu dritt in die Dolomiten gefahren, im Sommer. Es war ein Desaster. Ich hing in der Wand und konnte kein Glied rühren. Ich bin fast gestorben, nur zwölf Meter überm Boden an dem harmlosesten Felsen in ganz Südtirol, weil meine Arme und Beine so schlotterten. Sie mussten mich an einem Seil wieder herunterlassen, und Gaspar musste mich um die Taille halten dabei. Ich habe geheult. Achtzehn Jahre alt, und ich habe geheult wie ein Schlosshund. Sie waren sehr verständnisvoll, das waren sie immer, aber ich wusste, ich war anders als sie. Wir alle wussten das.
    Er starrt auf die Steilwände auf der anderen Talseite, und vielleicht denkt er dasselbe wie ich: dass es da drüben nicht einen Felszacken gibt, an dem Jozef nicht auf und ab und kreuz und quer gekraxelt ist.
    Ich fasse seine Hand und sage ihm etwas, das ich keinem Menschen je erzählt habe. Nicht einmal Jozef. Es ist ein Geheimnis, das ich so gut hüte, dass ich es kaum mir selbst eingestehe. Warum soll ich es jetzt nicht Karel beichten? Ich wäre bereit gewesen, ihm weit mehr von mir zu geben als das, und dieser Augenblick hier, auf unserer Wiese – diese letzte Spanne unseres Zusammenseins – scheint der rechte Zeitpunkt für Geheimnisse.
    Ich habe etwas ganz Schlimmes gemacht, sage ich. Weißt du noch damals, nach Gaspars Tod? In was für einem furchtbaren Zustand Jozef da war?
    Ja, das weiß ich, sagt Karel.
    Und ich beichte es ihm.
    Im Jahr, nachdem Gaspar gestorben war, zogen Jozef und ich in eine winzige Wohnung im Zentrum von Ljubljana. Ich gab Malunterricht, und Jozef arbeitete als Ausbilder im Alpenverein. Er hasste diese Arbeit. Aber in dem Jahr konnte nichts ihn froh machen. Er hatte sich mehrere Zehen abgefroren; er konnte anfangs nur am Stock gehen, was hieß, dass er auch für die Baustellenjobs ausfiel, die er so mochte. Und natürlich vermisste er Gaspar – Gaspar, der ihm das Klettern beigebracht hatte, der ihn zu sich genommen hatte, als Jozef ihrem Vater davongelaufen war. Aber mehr als alles andere vermisste er die Berge, die Berge und das Klettern. Er weinte jeden Abend. An manchen Wochenenden mochte er gar nicht aus dem Bett aufstehen.
    Ich fasste ihn behutsam an. Ich sagte ihm immerzu, wie froh ich war, dass er noch lebte. Ich sagte ihm, was für ein glückliches Leben wir zusammen haben würden. Ich sagte ihm sogar, dass er ja vielleicht irgendwann wieder würde klettern können – es schien eine so einfache Lüge, eine so einfache Art, ihn zu trösten. Ich glaubte – ich wusste -, letzten Endes würde auch Jozef zu dem Schluss gelangen, zu dem ich schon längst gelangt war: dass die Kletterei zu gefährlich war, der Preis des Scheiterns in den Bergen zu hoch.
    Aber dann lernte er Hugo kennen, der ihn anbetet und der ihm half, sich selbst wieder zu mögen. Jozef kaufte sich spezialangefertigte Schuhe; er brachte sich bei, ohne den Stock auszukommen. Dann machten er und Hugo zusammen erste Bergtouren. Und als ich eines Tages heimkam, montierte Jozef gerade seine Klettergriffe an unserer Wohnzimmerwand.
    Ich muss es versuchen, sagte er.
    Ich sagte mir, dass er dazu körperlich nie und nimmer in der Lage wäre.
    Aber eines Wochenendes, keine zwei Monate später, kündigte er an, dass er und Hugo eine leichte Route am Triglav ausprobieren wollten. Die Nordwand des Triglav ist zwölfhundert Meter hoch, und senkrecht. Keine Route dort ist leicht.
    Ich wurde hysterisch. Jozef versuchte mich auf seine Art zu beruhigen: indem er mir seine

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