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Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Titel: Bis an das Ende der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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hatte. Darauf müsse er gefasst sein.
    Es stimmte. Die Leute auf den Fotos sahen nicht aus wie Tom und Brynn. Doch. Doch, sie sahen aus wie sie. Ihre Gesichter sahen aus wie graue Latex-Masken von Tom und Brynn, die schlaff und hohl dalagen, ohne einen Kopf dahinter, der ihnen Form gab. Die rechte hatte Toms Haare und Bart. Die andere sah aus wie Brynn, nur dass ihre Züge schiefgezogen waren, mit Schlagseite nach rechts. Er konnte ihre bloßen Schlüsselbeine sehen und sagte sich, dass sie außerhalb der Fotos nackt sein mussten, und das erschien ihm verkehrt, furchtbar verkehrt.
    Die Gesichter hatten einen unterschiedlichen Ausdruck. Tom sah aus, als würde er einen Witz erzählen. Sein Mund stand offen, und seine Lippe kräuselte sich ein wenig und gab die Zähne frei. Seine schwarzen Augen waren Schlitze, der Kopf lag eine Spur im Nacken. Brynn sah trauriger aus. Toter, ihre Haut bläulicher. Blutsprenkel an Schulter und Kinnlade deuteten auf etwas Entsetzliches weiter unten hin. Ihre Haare standen wirr vom Kopf weg; sie hatte sie hochgesteckt gehabt, als sie um fünf aus der Arbeit weggegangen war. Ihre Augen waren nach oben gerollt, weiß an den unteren Rändern, schwarz an den oberen, und ihr Mund stand noch etwas weiter offen. Als wäre sie diejenige der beiden gewesen, die nach vorne geschaut und gesehen hatte, was auf sie zukam. Als hätte sie es Tom sagen wollen, ihn warnen, aber Tom hätte nicht zugehört.
    Er sagte zu der Beamtin: Ich habe genug gesehen.
    Sie waren irgendwo zum Essen gewesen. Wahrscheinlich ein bisschen spät dran. Sie schienen immerfort heimzueilen, um da stehen zu können, wo Danny jetzt stand: am Bett ihres schlafenden Kindes. Um mühelos das tun zu können, wozu Danny nicht den Mut fand: sich hinabbeugen und Colin auf die Stirn küssen, ihn zudecken, riskieren, dass er aufwachte. Ihn lieben.
    Liebte er Colin?
    Er liebte Tom. Brynn hatte er liebgewonnen. Aber ihren Sohn? Sollte er nicht mehr empfinden, als er empfand? Wenn er auch nur im Ansatz ein guter Mensch war, müsste dann sein Herz nicht diesem armen Kind zufliegen? Gestern noch hätte er gesagt, klar liebe ich Colin. Natürlich. Er ist mein Patenkind.
    Aber heute?
    Was, wenn vor ihm plötzlich der Teufel stünde und einen Pakt vorschlug? Du kannst Tom und Brynn zurückhaben. Nichts leichter als das. Gib mir einfach den Jungen, und ich bringe sie zurück. Würde er einwilligen? Was war Colin denn überhaupt? Er war drei, völlig ungeformt noch. Alle liebten Kinder so über die Maßen – aber was war mit ihren Eltern? Wo blieben die? Nur weil sie ein Kind hatten, galt ihr Leben plötzlich weniger? All ihre Arbeit, all ihre Liebe und Mühe waren dahin, und zurück blieb nichts als ein Kind, das den Verlust nicht im Entferntesten ermessen konnte – war das ein gerechter Tausch?
    Er stellte sich Toms Eltern vor, oder auch Walt, die Colin für sich fordern könnten. Wenn sie jetzt hier wären, wenn sie anbieten würden, ihm die Last abzunehmen, würde Danny kämpfen? Wäre er in der Lage dazu? Sein erster Impuls würde sein, zu zerfließen vor Erleichterung. Kim bei der Hand zu nehmen und das Weite zu suchen.
    Er dachte an Colins Art, sich an seine Hand zu hängen – manchmal, um ihn irgendwo hinzuzerren, ihm Spielsachen zu zeigen. Aber manchmal griff er auch einfach nur nach Dannys Hand und hielt sie, als wäre es das Natürlichste von der Welt.
    Wer hatte sich in letzter Zeit mehr darüber gefreut, ihn zu sehen? Colin oder Kim?
    Danny ließ sich schwerfällig auf dem Boden neben Colins Bett nieder. Er war der schlechteste Mensch, der herumlief. Er liebte den Jungen doch. Wirklich. Vielleicht nicht so, wie seine Eltern ihn liebten – aber das war nicht Colins Schuld. Nichts von alledem war Colins Schuld. Danny wünschte, er könnte sich bei jemandem entschuldigen, der ihn verstand.
    Er versuchte es sich auszumalen. Seine Stimme zu hören, die sagte: Ich hab dich lieb, Colin.
    Neuerdings hatte er angefangen, Colin auf seiner Gitarre herumspielen zu lassen. Seine Finger waren zu klein, um viel auszurichten, aber Danny brachte seine Martin mit und zeigte Colin, wie er sie halten musste, zeigte ihm, dass verschiedene Saiten verschiedene Töne machten. Danny drückte die Saiten herunter, und Colin zupfte aufs Geratewohl mit dem Plektrum daran herum und guckte nach jedem geglückten Ton hingerissen zu Danny hoch. Er wurde jetzt schon immer ganz aufgeregt, wenn er nur den Gitarrenkasten sah. Manchmal zupfte Danny die Saiten, und Colin

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