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Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Titel: Bis an das Ende der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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diesem Moment so durch und durch abartig vor.
    Liegengeblieben?, fragt der Mann, ohne den Blick von ihm zu wenden.
    Ja, sagt Brad.
    Wo?
    Hinten auf der 35, antwortet Brad. Ich hab einfach gepennt.
    Von wo sind Sie unterwegs?
    Die Augen des Mannes sind schmal geworden; es ist keine wohlwollende Frage. Aber diesen Teil hat Brad einstudiert.
    Er sagt: Ich hab übers Wochenende Freunde von mir an der NMU besucht und bin eingeschneit worden. Und vor lauter Eile heimzukommen hab ich nicht auf die Tankanzeige geschaut. Brad probiert ein Lachen, und es klingt so irr, dass er zusammenzuckt.
    Der Mann zählt ihm sein Wechselgeld hin, mit murmelnden Lippen. Das war ja vielleicht ein Wetter, sagt er. So was hab ich im Leben noch nicht gesehn. Äm – soll ich Sie zu Ihrem Auto fahren?
    Ach was, sagt Brad und schluckt seinen Schrecken hinunter. Machen Sie sich keine Mühe.
    Der Mann sieht erleichtert aus, nickt vor sich hin.
    Danke, sagt Brad.
    Aber schön aufpassen jetzt, sagt der Mann, und ehe Brad noch zur Tür hinaus ist, dreht er sein Radio brüllend laut.
     
    Drei Stunden später parkt Brad den Pick-up vor seiner und Mels Hütte.
    Er zittert, alles tut ihm weh vom Ausgraben – er hat den Schnee mit den Händen wegtragen, mit seinen Stiefeln Furchen für die Räder trampeln müssen. Niemand ist ihm begegnet; erst als er den Pick-up wieder auf der Straße hatte, kam der gelbe Jeep vorbeigeklappert, den er und Mel schon vor zwei Tagen gesehen haben, und der Fahrer hat ihm zugehupt. Brad hat ihn im Rückspiegel beobachtet, bis er hinter einer Kurve verschwunden war.
    Er hätte abhauen können, heim nach Chicago, als der Motor endlich lief. Mel einfach dalassen, wie sie es wollte. Er hat sich dazu zu zwingen versucht – hat am Steuer gesessen, an der frisch geräumten Straße, und sich gesagt: Zieh es durch! Bieg nach links ab und weg! Zum Schlussmachen war er zu feige – wozu also noch das Geschiss?
    Aber er ist nach rechts abgebogen. Er ist zurück zur Hütte gefahren. Mit dem Auto gefahren! So einfach und leicht! Unfasslich, wie rasch er wieder bei ihr war.
    Mel hat ihren Abschied bekommen. Jetzt will er seinen.
    Noch ist die Straße nach beiden Richtungen leer, aber er parkt, wo jeder ihn sehen kann. Er muss sich beeilen. Brad stapft die verschneite Einfahrt hinunter – der tiefe Pulverschnee von heute Morgen ist in der Sonne zu nassem Zement zusammengesackt – und zur Haustür hoch. Das Thermometer zeigt vier Grad über Null an.
    Er holt tief Atem, wappnet sich. Vielleicht, denkt er mit einem aberwitzigen, schwimmenden Hoffnungsgefühl, vielleicht ist Mel aufgewacht. Es sind schon seltsamere Dinge geschehen. Vielleicht sitzt sie auf der Matratze, ungeduldig wartend, oder stinksauer auf ihn, ihm ist beides gleich recht -
    Aber alles ist so, wie er es verlassen hat. Das Zimmer ist eng und drückend und stinkt nach Rauch. Das hereinströmende Sonnenlicht malt lange, unscharfe Rechtecke auf den Fußboden, aber nach dem Pick-up mit seiner voll aufgedrehten Heizung fühlt sich der Raum an wie ein Eisschrank.
    Mel liegt, wo er sie hat liegen lassen: ein Häuflein unter der Steppdecke, so still und klein, dass man schon genau hinsehen muss, um überhaupt eine menschliche Gestalt zu erkennen.
    Die Dielenbretter ächzen unter seinen Stiefeln, als Brad zu ihr hingeht. Mit immer noch zittrigen Fingern berührt er die Decke. Die Decke ist kalt. Er drückt mit der Hand darauf, bis er sie unter dem Stoff spürt, hart wie Stein.
    Er setzt sich hin und legt beide Hände auf die Decke und versucht sich klarzumachen, was er da berührt. Er glaubt, es muss ihr Arm sein. Er streichelt daran auf und ab.
    Er sollte wenigstens ihren Ausweis dalassen. Es wird wahrscheinlich bis zum Sommer dauern, bis jemand sie findet, und bis dahin wird – wird nicht mehr viel von ihr übrig sein. Brad schluckt, ein trockenes Klacken ganz hinten in der Kehle.
    Er gibt sich einen Ruck und langt über die Matratze, um den Geldbeutel aus Mels Rucksack zu angeln. Er kramt ihren Studentenausweis heraus – ihr Ausdruck auf dem Bild ist steinern, als ob sie wütend wäre – und legt ihn neben sie auf die Matratze. Er holt ihren Führerschein heraus, auf diesem Bild lächelt sie. Er steckt ihn in seine eigene Brieftasche.
    Papier hat sie keines dabei, sonst würde er einen Zettel schreiben – ihn vielleicht an die Tür hängen, dass wer auch immer als Nächstes hereinkommt …
    Er stockt, hält ganz still, schaut zur Tür. Denn er weiß ja, wer es sein

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