Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
wird.
Die Hütte gehört der Familie von Andy. Und es wird jemand aus Andys Familie sein, der sie findet, wenn es wärmer wird. Einer von ihnen – vielleicht Andy, aber wahrscheinlicher Andys Vater – wird Mels Ausweis sehen. Und was denkt er dann?
Das auf der Hand Liegende: dass Mel hergekommen ist, weil sie Andy noch liebt. Oder weil sie Andy eins auswischen wollte. Weil Andy ihr immer noch nicht scheißegal ist.
Brad stellt sich vor, wie die Geschichte die Runde macht: ein Anruf bei Andy, ein Anruf bei Mels Eltern, Mels Freunden … Die Anrufe werden Mel verändern, über Nacht, sie werden einen völlig anderen Menschen aus ihr machen. Mel wird nicht mehr die Frau sein, die Andy den Laufpass gegeben und ihr Leben in den Griff gekriegt hat. Stattdessen wird aus ihr die arme Depressive, die nie über ihre erste Liebe hinweggekommen ist, das bedauernswerte kleine Ding, das nicht leben konnte ohne seine Hoheit Prinz Andrew.
Das darf Brad nicht zulassen. Das nicht.
Also kniet er sich hin und hebt Mel auf – sie ist doppelt so schwer, wie er in Erinnerung hat – und taumelt mit ihr zur Tür. Und obwohl er mehrmals hinfällt und obwohl er selbst und die Steppdecke über und über mit Schnee verkrustet sind, bis er es endlich geschafft hat, schleppt er sie die Auffahrt hoch bis zum Auto und hievt sie auf den Beifahrersitz. Sie passt nur seitlich zusammengerollt hinein, den Kopf an die Tür gelehnt – besser bekommt er es fürs Erste nicht hin. Er schnallt sie an, damit es hält.
Dann läuft er noch ein letztes Mal zurück, um Mels Sachen zu holen. Hektisch sucht er herum, keuchend jetzt, damit auch ja kein Hinweis bleibt, wer hier war.
Den Kloeimer in der Kammer lässt er stehen.
Scheiß auf Andy.
Er fährt Richtung Süden. Die letzten Schneereste gleiten von Dach und Kühlerhaube, als er den Highway erreicht und endlich Gas geben kann. Die größeren Straßen sind inzwischen frei, aber in Seitenwegen und Einfahrten sieht Brad Leute ihre eingeschneiten Autos ausgraben, heruntergebogene Äste freischütteln, Schnee von Gehsteigen schaufeln. Er hält an einer anderen Tankstelle, füllt Benzin nach, fährt weiter. Immer mehr Autos tauchen um ihn auf.
Eine Zeitlang versucht er es mit Radiohören. In den Nachrichten heißt es, dass Ober-Michigan seit zwanzig Jahren keinen so schlimmen Schneesturm erlebt hat. Todesopfer werden gemeldet. Ein alter Mann, der beim Schneeschaufeln einen Herzinfarkt erlitten hat. Ein Jugendlicher, der von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gefahren ist. Zwei Leute, deren Boot auf dem Lake Superior vermisst wird. Ein Obdachloser, erfroren in einem Park in Sault Sainte Marie.
Er schaltet das Radio aus. Hin und wieder sieht er aus den Augenwinkeln zu Mel in ihrer Decke. Er schaltet das Radio wieder an. Er fühlt sich mit genauso elend wie ohne.
Als er die Grenze nach Wisconsin überquert, hängt die Sonne niedrig und aufgequollen im Westen, und er starrt sie an, dumpf, blöde – eine ganze Weile kommt er nicht darauf, welcher Tag es ist. Mühsam rechnet er rückwärts und stellt bestürzt fest, dass keine vierundzwanzig Stunden vergangen sind seit Mels Tod.
Und die ganze Zeit, während er fährt, grübelt er darüber nach, wie er es am besten hinkriegt. Wo er sie absetzen kann.
Sein erster Gedanke ist, zu einem Krankenhaus zu fahren. Einem überfüllten Krankenhaus in, sagen wir, Milwaukee, wo er unbemerkt auf den Parkplatz gelangt und wieder weg. Aber er kennt etliche Leute, die Freunde nach einer Überdosis vor Krankenhäusern abzuladen versucht haben, und fast alle hat doch irgendwer beobachtet und das Autokennzeichen notiert. Wenn er es auf die Tour probieren will, dann mit etwas Besserem als einem schwachsinnigen Junkie-Trick.
Er denkt daran, sie zurück in ihr Zimmer zu bringen, sie ins Bett zu packen, sie dort zu lassen. Aber sie hat zu viele Mitbewohner; jemand würde ihn sehen. Und selbst wenn nicht: Sie wissen, dass sie weg war und dass Brad einen Schlüssel hat.
Ihm fällt nur ein Weg ein, der zumindest halbwegs sicher scheint. Er mustert die Highway-Schilder, hält Ausschau nach einem Rastplatz.
Mels Mitbewohner werden ein Problem sein, ganz egal was er macht. Sie kennen ihn, sie werden Fragen stellen. Er wird ihnen erzählen müssen – ihnen? was denkt er da? allen: Mels Freunden, den Leuten in der Imbissbar, wahrscheinlich sogar den Bullen – allen wird er dieselbe Geschichte erzählen müssen, immer wieder: Mel ist abgehauen, und ich hab keinen
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