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Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Titel: Bis an das Ende der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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es kam ihm vor, als würde er ihr zusehen, wie sie das Papier von einem Geschenk abriss.
    Sie sagte: Das ist so dermaßen verrückt.
    Aber du willst es trotzdem.
    Sie grinste und zog ihn enger an sich. Wie du ganz genau weißt, sagte sie.

IX.
     
    Brad stapft die Straße entlang in Richtung Pick-up, den Blick die meiste Zeit auf seine Stiefel gesenkt. Der Pflug hat den Schnee zu einer dünnen Kruste gewalzt, so weiß im Sonnenlicht, dass Brad die Augen tränen; sie ist rutschig, und mit seinen tauben Füßen stolpert er auch so schon, wenn er nicht aufpasst. Und alles um ihn herum gleißt so sehr, dass er kaum hinschauen kann: die Hügel ein blendendes Weiß, der Himmel ein Blau, das so rein glänzt wie Lack. Die Sonne strahlt herab; nach einer Weile bricht Brad unter seinen Kleiderschichten tatsächlich der Schweiß aus. Aus den Bäumen wummert und zischt es immer wieder abrupt: Schnee, der in Stollen und Schleiern von den Kiefernzweigen herabfällt. Brad ist so durstig, wie er es im Leben nicht gewesen ist. Ohne stehenzubleiben, schaufelt er sich Händevoll Schnee in den Mund, saugt sie als winzige Rinnsale die Kehle hinab.
    Und immerfort denkt er: Mel ist tot. Ich bin allein.
    Nach einer Weile kommt er an dem Pick-up vorbei, und obwohl er Ausschau danach hält, beruhigt es ihn doch, wie schwer er auszumachen ist: nur ein pick-up-förmiger Schneehaufen zwischen den Bäumen unten, neben der anderen Hütte. Der Schneepflugfahrer jedenfalls hat ihn nicht bemerkt: Eine hüfthohe Schneemauer versperrt die Einfahrt.
    Es wird eine Heidenarbeit sein, das Ding auszubuddeln. Aber das ist ein Problem für später.
    Für den Augenblick trottet Brad weiter zur Tankstelle und versucht sich zurechtzulegen, was er dort sagen wird.
    Das Richtigste wäre natürlich, zu dem Mann an der Kasse hinzugehen und alles zu beichten. Schluss zu machen mit dem Unfug. Zu sagen: Meine Freundin liegt tot in einer von den Hütten da oben. Seinen Namen anzugeben, Mels Namen. Das ganze amtliche Räderwerk in Gang zu setzen.
    Aber er hat ihr gesagt, dass er sie dalässt. Er hat es ihr versprechen müssen.
    Brad weint jetzt beim Gehen; niemand sieht ihn hier, aber er hält sich trotzdem die Hand vor die Augen, zwickt die Nasenflügel zusammen. Was hat er denn versprochen? Mel hat ihn ausgetrickst. Er hat nicht ahnen können, was sie plant. Als er es versprochen hat, da hat er gedacht, sie beide könnten es schaffen. Und er hatte Recht. Er hatte Recht. Mel hätte ihm doch bloß glauben müssen, verdammt. Ihm vertrauen.
    Warum hat sie diese Scheiß-Tabletten mit hierhergeschleppt?
    Er hat ihr vertraut. Er war x-mal in ihrem Zimmer allein – x-mal hätte er das Zeug im Klo runterspülen können. Gedacht hat er daran, aber dann hat er es doch nicht getan. Weil er weiß, dass Mel ihn auf die Probe stellen wollte, als sie ihm die Tabletten gezeigt hat. Dass sie sehen wollte, was er sagen würde, wie er reagierte. Ob bewusst oder nicht, sie hat ihn auf die Probe gestellt, und er hat die Probe bestanden. Sie hat ihm vertraut, und deshalb hat er ihr auch vertraut, sich darauf verlassen, dass sie keine Dummheiten macht, dass sie versuchen wird, glücklich zu sein -
    Und sie hat sie hier her mitgenommen.
    Er zwingt sich dazu, tief durchzuatmen. Logisch zu denken. Er kennt Mel. Er kennt sie besser als sonst einen Menschen. Sie würde jetzt sagen, so einfach ist eben nichts, was sie tut. Wahrscheinlich hatte sie die Tabletten überall dabei. Manche Leute schützen sich mit Waffen oder Kaninchenpfoten vor Unheil, oder mit einem Kruzifix um den Hals. Bei Mel waren es ihre Tabletten.
    Und auf ihre morbide Weise hat sie ja Recht behalten: Schlimmer hätte es für sie beide nicht kommen können. Vielleicht war ihr klar, dass bei Leuten wie ihr und Brad früher oder später etwas schiefgehen muss. Vielleicht hat im Grunde nichts von diesem ganzen Elend sie groß überrascht. Er erinnert sich an ihren Blick, als der Qualm sich in der Hütte ausbreitete – an dieses ruhige: Es würde schneller gehen. Mel hat gewusst, wie verratzt sie sind, schon lange, bevor Brad es kapiert hat.
    Brad geht immer rascher, ab und zu ausrutschend auf dem zusammengepressten Schnee.
    Aber sie hat sich geirrt. Die Sonne ist herausgekommen.
    Aber wie hätte sie das wissen sollen? Alles, woran sie sich halten konnte, war das, was Brad ihr gesagt hat: dass er am Morgen Hilfe holen wollte. Über den Ausgang dieser Aktion musste sie ganz genauso spekulieren wie er. Sie saßen beide im selben

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