Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
kalten Zimmer und wägten die Chancen ab, und kamen jeweils zu dem einzigen Schluss, zu dem sie gelangen konnten.
Und war es nicht letztlich bei ihnen beiden die gleiche Entscheidung? Wenn die Sonne nicht herausgekommen wäre – wenn Brad diesen selben Gang jetzt mitten hinein in den Rachen des Sturms unternehmen müsste, durch knietiefen, ungepflügten Schnee, bei diesem Wind, dieser Kälte -, wie sähe es dann für ihn aus? Er hat es wagen wollen, weil das Mel möglicherweise retten würde. Und wenn er draufgegangen wäre dabei. Weil er es nicht mehr ertragen konnte, dazusitzen und nichts zu tun.
Hat Mel denn eine andere Wahl getroffen? Sie hat das getan, was sie ertragen konnte, und sie hat es deshalb getan, weil sie ihn liebte.
Brad setzt sich in einen Schneewall und vergräbt das Gesicht in den Händen.
Aber wie kann er tun, was sie von ihm verlangt? Wie kann er sie alleinlassen?
Er versucht sich den Tankwart hinter seiner Kasse vorzustellen. Oder einen Polizisten. Er versucht sich vorzustellen, wie er selber den Mund aufmacht, wie die Lügen aus ihm herausströmen.
Die wahrste Geschichte, die er erzählen könnte, würde nicht aus Worten bestehen, sondern aus einem Bild. Einem Bild, das es nicht gibt. Es würde ihn und Mel zeigen, eng aneinandergeschmiegt daliegend: er mit dem Arm um sie, sein Kinn auf ihrem Scheitel, beide still und friedvoll und vereint, und zwischen sie beide gebettet all die Dinge, die sie in ihrem Leben gemacht haben. Und sie lägen nicht in einer Hütte; sie wären achtzig Jahre alt und lägen unter einer dicken Steppdecke in einem großen Haus an einem sonnigen Strand, und niemand würde sie finden, nur die Kinder, die sie nicht hatten, und niemand würde groß damit hadern, dass sie so gestorben waren, denn alle, die sie kannten, würden wissen, dass es so hatte kommen müssen mit ihnen; dass sie einander so sehr geliebt hatten, dass einer den anderen nicht um eine einzige Sekunde hätte überleben können.
Warum hat er die zweite Kerze angezündet! Er hätte die Tür weit aufmachen und sich die Kleider vom Leib reißen sollen. Er hätte Mel in die Arme nehmen sollen und es einfach geschehen lassen. Aber das hat er nicht. Er hat es nicht gekonnt.
Er ist so ein elender Feigling.
In dem Augenblick hört Brad – seine Schultern zuckend, sein Kinn rotzverschmiert, seine Kleider feucht von schmelzendem Schnee – ein Fahrzeug herankommen. Er rappelt sich auf und wischt sich die Augen und sieht in weiter Ferne einen roten Klecks. Der Pflug. Er räumt jetzt die andere Seite der Straße, rumpelnd und scharrend, Schnee vor sich aufgetürmt wie eine Sturzwelle.
Er sollte warten bis zur letzten Sekunde und sich dann davorwerfen. Mel liegt tot und allein in der Hütte, und er steht hier, noch am Leben. Er ist ein Idiot und ein Versager, mit dem es früher oder später sowieso aus ist – wie konnte Mel nur so bescheuert sein, ihn retten zu wollen? Was macht er jetzt? Was kriegt er ohne sie denn verdammt nochmal noch zustande?
Er watet die Böschung hinab in den Tiefschnee, zwischen die Bäume. Der Pflug kommt nähergetuckert, laut und lebendig und robust. Brad lehnt an einem Kiefernstamm. Er sollte es hinter sich bringen. Jetzt.
Der Pflug dröhnt vorbei, und Brad duckt sich tief, das Gesicht an die nasse Rinde gedrückt, die Augen fest zugepresst, bis das Motorbrummen fast verklungen ist.
Als er die Tankstelle schließlich erreicht, ist ihm wieder kalt. Er hat so lange gegen den Schnee anblinzeln müssen, dass er im Ladeninnern nur wellige Farblinien wahrnimmt, einen welligen Umriss von Regalen und Drehständern und dem Mann an der Kasse. Er riecht gebratenes Fleisch, und sein Magen zieht sich zusammen, schmerzhaft.
Er geht in die Toilette und wartet, bis sein Blick halbwegs klar ist, dann mustert er sich: rotäugig, ausgemergelt, die Haut grau, wo sie nicht dreckverschmiert ist. Er trinkt aus der hohlen Hand, trinkt und trinkt, schrubbt sich dann das Gesicht sauber, macht sich das Haar nass und bindet es zu einem Pferdeschwanz.
Wieder im Laden, kauft er einen Hotdog, eine Sonnenbrille, dünne Handschuhe, und bezahlt im Voraus für eine Gallone Benzin, für die er einen kleinen Plastikkanister bekommt. Der Mann am Tresen ist dick und hat eine Jagdmütze auf dem Kopf, und er lässt Brad nicht aus den Augen. Kann er sehen, wie Brads Hände zittern? Ein Radio hinterm Tresen spielt quäkende Country-Musik, und Brad muss an sich halten, um nicht hinzustarren; Musik kommt ihm in
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