Bis ans Ende der Welt
Joanna gestern nicht entgangen sein, daß wir vom Berg ins Tal zum Kloster abgestiegen sind. Die Stadt lag voll sichtbar zu unseren Füßen. Gerade ein Kniekranker wird einen solchen Umstand wohl nicht übersehen und statt abwärts zu gehen, auf den Berg zu steigen. Darüber hinaus war Joanna ohne Gepäck. Dessen Transport nach Estaing übernahmen auch heute die Bremer. Was trieb sie denn dazu, in der verkehrten Richtung zu laufen? Und warum wollte sie am Morgen nicht mit uns gehen? Ich war ratlos und besorgt. Elisabeth genauso. Sie erklärte, sich nicht eher von der Stelle zu rühren, bis Joanna aufkreuzte. Immer wieder kletterte sie über den Absperrzaun und lief ein paar Schritte auf dem Weg hin und her. Plötzlich kam sie mit einer nagelneuen Digitalkamera in der Hand zurück. Jemand muß sie dort gerade verloren haben. Wer es auch immer war, zwischen den zwei letzten Suchgängen ist an uns niemand vorbeigekommen. Ein neues Rätsel oder auch nicht. Ich hätte mich beim Herrn nicht wegen der fehlenden Kamera beklagen sollen. Nun hatten wir eine. Die gespeicherten Bilder zeigten einen jungen Farbigen und ein weißes Mädchen. Das Mädchen sah sehr verliebt und glücklich aus. Ich dachte daran, daß ihnen die Bilder sehr fehlen werden. Aber Sissi war glücklich, sie hatte ein neues Spielzeug. Nun hatte sie guten Grund, durch die Gegend zu galoppieren. Sie mußte ja Fotos schießen.
Schließlich blieb uns nichts anderes übrig, als das Warten aufzugeben. Mehr als vier Stunden saßen wir hier schon fest. Was auch immer Joanna aufhielt, es war klar, sie werde hier heute nicht mehr vorbeikommen. Wir mußten unser Tagesziel erreichen, die Übernachtung war reserviert. In Estaing konnten wir sehen, was zu tun ist, vielleicht hat jemand das Mädchen gesehen oder von ihm gehört. Wir machten uns also zügig auf den Weg und genossen den schnellen Gang. Trotz Sorge um Joanna war Sissi gut gelaunt und erzählte vergnügt von ihrer Familie. Nicht einmal die telefonische Nachricht, daß der Bruder einen Motorradunfall hatte und im Krankenhaus liegt, konnte sie betrüben. Das sei in der Familie häufig der Fall, auch sie sei schon auf dem Mofa von einem Auto angefahren worden und habe sich dabei das Bein gebrochen. Dabei zeigte sie eine sehr appetitliche kleine Narbe unter dem Knie. Sie nahm es echt sportlich hin. Ich bat den Herrn für ihren Bruder. Der arme brach sich den Kiefer und sonst noch was und konnte eine neue, lukrative Stelle nicht antreten. „Der kommt schon wieder hoch, und Stellen gibt es genug,“ frohlockte Sissi das Fohlen, und wir wanderten Arm in Arm weiter und hörten über die Ohrhörer gemeinsam Musik von ihrem Telefon. Perfekte Harmonie und kein Wort über die verlorengegangene Joanna.
Vor Espalion überraschte uns dann die Perserkirche, die wir wie alle anderen Gotteshäuser unterwegs brav besuchten. Es ist ein eindrucksvoller romanischer Bau aus rosa Sandstein aus dem 11. Jahrhundert. An dieser Stelle wurde im Jahre 730 der lokale Heilige Hilarian von den Sarazenen enthauptet. Der Legende nach habe er dann den ihm abgeschlagenen Kopf selbst noch bis zu einer Quelle getragen, um ihn zu waschen. So steht er, im Priesterornat und den Kopf in den Händen haltend, kopflos als Statue am Eingang. Es ist eine alte Pilgertradition, über den Reliquien des Heiligen zu meditieren. Innen aber herrschte eine düstere, muffige Stimmung, die gleich über uns herfiel und bald unerträglich wurde. Die märchenhafte Architektur und die phantastisch bemalte Holzdecke konnten diese Beklemmung nicht wettmachen. Vielleicht war es auch nur das Alter. Ein Haus, fast tausend Jahre alt, das muß man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen. Doch war da noch etwas anderes, unfaßbares, was uns Angst machte. Doch hier in Aveyron war auch so ziemlich alles uralt, ohne einem gleich Furcht einzuflössen. Nicht die sakralen und nicht die profanen Bauten. Im Gegenteil. Die gotischen Brücken etwa, die im hohen Bogen den zu dieser Jahreszeit noch seichten, harmlosen Lot querten, fanden alle gar erhebend und inspirierend. Brücken baute man hier auffallend weitläufig und stabil. Viele davon auch wegen des regen Verkehrs auf dem Camino. Bei ihrem Anblick blieb mir immer fast der Atem stecken, und man fragte sich unwillkürlich, was nach tausend Jahren denn von unserer Epoche noch übrig bleiben mag. Wohl nicht der kitschige bronzene Schwammtaucher im Tauchanzug und Kugelhelm, der da im knietiefen Wasser am Ufer steht. Der nicht und
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