Bis ans Ende der Welt
auch nicht die ganze auf brüchigen Plastikscheiben gespeicherte menschliche Kulturgeschichte. Angeblich würden, sollte es die pflegende menschliche Hand nicht mehr geben, auch die gigantischen Megastädte in fünfhundert Jahren von der Natur völlig absorbiert werden. Vermutlich bleibt dann doch nur der Atommüll.
Aber für trübe Gedanken war ich jetzt nicht sehr empfänglich. Wir marschierten durch eine unglaublich aufregende Gegend und kamen uns immer näher, was noch aufregender war. Die vielen Fotos, die wir unterwegs schossen, zeigten es deutlich. Wir waren ein glückliches Paar. Schon das zweite im Kameraspeicher. Aber wir verloren kein Wort darüber, taten, als ob nichts wäre. So kamen wir im Glück nach Estaing, das in einer Flußschleife liegt und größtenteils aus einer mächtigen Burg aus dem fünfzehnten Jahrhundert besteht. Die Stadt lebte von den Pilgern, und ihre noch immer sichtbare Größe ging mit dem Pilgerboom zu Ende. Auch hier steht eine großartige gotische Brücke aus rotem Stein.
Fast ganz oben auf dem historischen Burghügel lag das Haus der Hospitalité Saint-Jacques , eine echt religiöse Pilgerherberge, in der wir unterkommen wollten. Als wir ankamen, war der Gottesdienst gerade zu Ende, doch für uns hat man die Hostie sozusagen aufgehoben und den Gottesdienst in verkürzter Form wiederholt. Man wollte den Nachzüglern auf keinen Fall den Segen vorenthalten. Da wir nur zu zweit waren, und ich die Antworten nicht sicher auf Französisch wußte, mußte ich sie lateinisch geben. Andere Sprache ließ man nicht gelten, man ging kein Risiko ein, ich hätte ja wohl alles Mögliche schwatzen können. Die größte Überraschung aber war Joanna. Nicht nur war sie vor uns da und hielt für uns zwei Betten frei. Sie tat es mit absoluter Selbstverständlichkeit. Trotz ihres rückwärtigen Ausflugs und kranken Knies überholte sie uns auf der Autostraße, während wir oben auf der Klippe auf sie warteten. Sie machte nicht den Eindruck, als ob ihr etwas weh täte. Ja, sie sei in der Tat zurück gegangen, sie habe sich einfach geirrt. Sonst hatte sie keine Erklärung, und ich wollte nicht in sie dringen. Ich war froh, sie gesund und glücklich wiederzusehen. Auch Monika und Lüdtke und sogar Stephanie waren schon da. Wir waren die letzten Nachzügler. Dadurch stürzte alles über uns ein, und wir hatten keine Zeit, uns zu wundern oder Dinge zu besprechen. Gleich nach der Messe gab es eine Hausführung. Joanna sollte dabei für die Deutschen ins Englische dolmetschen. Sie sprach Englisch perfekt, da ihr Vater Amerikaner war. Aber irgendwie tat sie es nicht, und es hätte sowieso keinen Sinn, da die Bremer kaum ein Wort Englisch sprachen. Also übersetzte ich notgedrungen aus freien Stücken aus dem Französischen ins Deutsche, was einigermaßen gut klappte. Bis auf den Umstand, daß sich Sissi, Joanna und Stephanie vor Lachen kaum noch halten konnten. Später erfuhr ich, daß sie sich an einen Film erinnert fühlten, wo ein jüdischer Junge im KZ vortäuscht, Hebräisch zu können, um sich nützlich zu zeigen und nicht vergast zu werden, obwohl er eigentlich als Deutscher aufwuchs und kein Wort von der Sprache seiner Vorfahren kann. Da war ich aber ein wenig beleidigt, denn so miserabel war mein Französisch wiederum doch nicht, als daß ich eine simple Hausführung nicht verstanden hätte. Außerdem war das mit dem Jungen ein echt schwarzer Humor.
Golinhac, km 1489
Alles in diesem Gîte wurde gemeinschaftlich getragen, das Gebet, die Mahlzeiten, die Arbeit. Die Mitglieder opfern etwas Geld und ihren Urlaub, um in einer der zahlreichen Herbergen der religiösen Laiengemeinschaft Dienst zu tun. Es erinnerte mich bißchen an das Motto die Benediktiner: Ora et labora . Es gefiel mir, daß man auch die Pilger wie selbstverständlich in allem mit einbezog und nicht einfach verwildern ließ. Auch wenn der heilige Benedikt über pilgernde Mönche wettert und von ihnen Stabilitas verlangt, so ist doch der Pilger der Stärkere im Glauben, da er viele Entbehrungen auf sich nimmt. Freilich trift man auf dem Camino auch Lustwanderer, Leute, die keine religiöse Motivation haben. Hier auf der Via Podiensis waren sie wohl in der Minderheit. Sie suchten sich dann andere Herbergen, wo sie vom „Aberglauben“ verschont blieben, oder machten wie mein Freund Tom Jones gute Miene zum bösen Spiel. Aber der Camino mag auch für solche inspirierend sein, zumindest fordert er von ihnen, sich mit Glaubensinhalten
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