Bis ans Ende der Welt
Mittelmeer her und fegte die Wolken vom Himmel. Dort, wo die Aussicht am besten war, stand eine riesige Marienstatue, Vierge Notre-Dame-du-Venus , mit dem Rücken zum Tal, auf den Camino blickend. Auffallend war nicht nur die Größe, sondern auch die Gestalt selbst. Während Mariendarstellungen meist lieblich und anmutig sind, entsprach diese hier eher einer primitiven Bäuerin mit voller Gestalt und groben Gesichtszügen.
Wir trödelten hier ein wenig herum, sprachen ein Gebet, aber Joanna kam nicht nach. Nun, vielleicht waren wir wieder zu schnell. Aber auch von Monika und Lüdtke fehlte jede Spur. Die hätten wir eigentlich einholen müssen, Lüdtke war ja immer noch fußkrank. Die Sonne stand inzwischen fast im Zenith, und wir beschlossen, hier am Weg solange zu warten, bis uns Joanna einholte. Egal wie langsam sie ging, sie mußte vorbeikommen. Dazu kletterten wir ein paar Meter weiter über den niedrigen Schutzzaun, der die Wanderer vor dem Absturz von der Klippe schützen sollte, und machten es uns im hohen Gras auf dem halbwegs noch sicherem Streifen vor dem Abgrund bequem. Es war eine mir unbekannte, wilde südländische Grassorte, durchsetzt mit vielen Blüten- und Gewürzpflanzen. Auch einige junge Pinien versuchten hier Fuß zu fassen. Ich fürchtete mich ein wenig von Schlangen und ähnlichen Getier, das sich in solchem Graß heimisch fühlt. Aber ein so gewaltiger Ausblick bot sich von dieser Stelle, so daß ich alle Bedenken fallen ließ. Wir sahen aus etwa fünfhundert Meter Höhe durch das Tal des Lot bis nach Espalion. Der Wind schoß aus dem Abgrund über die Klippe, strich in starken, langen Stößen über die Grashalme und warf sie rhythmisch hin und her. Dahinter lag die mittelalterliche Stadt, die Bergkette, der tiefblaue Himmel, der glühende Rand. Es roch nach Rosmarin, Thymian und Lavendel. Nach dem Essen rollten wir die Schlafsäcke aus, um ein wenig zu dösen, aber die Sicht ließ uns keine Ruhe. Schulter an Schulter saßen wir da, teilten uns die Kopfhörer, hörten Musik aus Sissis Mobiltelefon und sahen wie gebannt das Wunder um uns herum. Kaum, daß wir zu sprechen wagten. Die dramatische Landschaft, die gefährliche Klippe, die starke Musik, das Mädchen, es war wie eine Szene aus einem Film mit Jean-Paul Belmondo. Einmalig, romantisch, absolut spannend und unvergeßlich. Außer Atem. Aber ich mißtraute solch einem unirdischen Glück. Am Abend vor meinem Motorradunfall erlebte ich ähnliches an einem kleinen slowenischen Fluß, wo ich das Zelt für die Nacht aufschlug. Die gleiche Klarheit des Blicks, die gleiche Farbintensität, die gleiche majestätische Stimmung. Am nächsten Morgen ging für mich die Welt unter. Und davor, sozusagen am Anfang meines Erwachsenenlebens, lag ich mit einem Mädchen wie Sissi in einem Heuhaufen und sah zu, wie am Nachthimmel voller Sternenräder der Mond, rosagelb und groß wie ein Scheunentor, auf- und unterging. Es ist schon lange her, und ich habe seitdem so einen Mond nicht mehr gesehen. Es war während eines Ernteeinsatzes mit der Schule, und solche Szenen waren den Paukern freilich vollends verhaßt und unerwünscht. Also kletterte ich gegen Morgen heimlich über eine sieben Meter hohe Mauer, die ausgerechnet dann, als ich oben war, einstürzte und mich unter sich begrub. Als ich unter dem Ziegelhaufen endlich freikam und in den Schlafsaal gelangte, sah ich aus wie ein Zombie, blutüberströmt vom Kopf bis Fuß und fast skalpiert. Es wurde damals ein ziemlicher Skandal. Seitdem suchte ich in solchem Bild des himmlischen Übergangs die Spur des Todesengels. Irgendwo da drin versteckt er sich und lauert, bis seine Zeit kommt. Ich bat den Herrn, mich zu behüten, damit ich mein Gelübde erfüllen kann. Er saß am Klippenrand und sah uns mitleidig an. Obwohl er unser Hirte war, unsere Erdentage wurden nicht nach ihm bemessen. Es war gut möglich, daß ich auch für dieses Moment noch teuer zu zahlen haben werde. Elisabeth schien es zu spüren und hielt mich erschrocken fest, als ich für eine Sekunde auf dem glatten Gras ins Rutschen kam.
Nun lagen wir schon drei Stunden da, und es gab immer noch keine Spur von Joanna. Wir befragten jeden der vorbeiziehenden Pilger, aber keiner von ihnen überholte sie auf dem Weg. Später berichteten Nachzügler, Joanna rückwärts in Richtung Saint-Chély wandernd gesehen zu haben. Erst Thomas, nun sie? Schon wieder lief einer von uns rückwärts, war das nicht komisch? Wir weigerten uns, es zu glauben. Es kann
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