Bis ans Ende der Welt
alles eingestürzt oder nur provisorisch mit Balken gestützt. So lange wie die prähistorischen Wohnhöhlen in Atapuerca würden sie wohl nicht halten. Dort fand man achthunderttausend Jahre alte Siedlungsreste. Und weil Spanien von Europa enorm profitierte, und der Namen anfangs noch gut zog, nannte man es hier großkotzig die „Heimat der ersten Europäer“. Ein solcher paläontologische Europäer winkte mir – keck und selbstbewußt, als ob er in den Stadtrat gewählt werden möchte — vom Begrüßungsschild am Ortsrand zu. Es ließ mich kalt. Sollten es hier gar die ersten Vereinigten Staaten von Europa gewesen sein, ich hatte keine Lust auf Besichtigungen. Erst gar nicht, wenn es mit Umwegen verbunden war. Der Weg ist das Ziel! „Der Camino und Santiago de Compostela, sonst nichts!“ stand irgendwo an die Wand geschrieben. Sehr lobenswert und motivierend, doch vielleicht trug der Autor die gleichen Stiefel wie ich und wollte sich nur Luft verschaffen. Ein Schuh wie der meinige war nämlich daneben ans Wegschild genagelt.
Vor Burgos wollte ich eigentlich noch einmal irgendwo übernachten. Je näher an der Stadt, desto besser. Da käme ich nämlich während der kühlen Vormittagsstunden hinein, hätte Zeit zur Stadtbesichtigung und für dringende Einkäufe, könnte mich dann frei entscheiden, dort zu übernachten oder weiterzugehen, je nach Lust und Laune. In Atapuerca hätte es eine Möglichkeit gegeben, die Herberge war ein modernes Fertighaus, angeblich auch behindertengerecht. Das war mir gleich. Alles nur modischer Schnickschnack. Was nutzte denn dem Behinderten, sofern er sich auf dem Camino nach Santiago überhaupt aufmachen konnte, eine einzige behindertengerechte Herberge auf Hunderten von Kilometern? Nichts. Außerdem hatte sie noch nicht auf. Es wurde kalt und regnerisch, und ich rettete mich ins Touristenzentrum, wo ich eine geschlagene Stunde am Computer verbrachte, um per Internet fällige Bankgeschäfte zu tätigen, und ähnlichen Unsinn trieb. Es sei meine Mittagspause, und in meiner Mittagspause könne ich tun, was ich für richtig halte, verteidigte ich mich dafür vor dem Herrn. Nicht schlimm, doch naiv, bedürftig und nicht demütig, fand er. Ich traf ihn nämlich hier nach langer Zeit, aber er gesellte sich nicht wie sonst zu mir, sondern befaßte sich statt dessen mit irgendwelchen steinernen Kreisen, die hier zwischen verrostetem Stacheldraht und dem Gipfelkreuz lagen und deren Sinn ich nicht begriff. Der Ort war durch und durch historisch, zog Ereignisse geradezu an. Im Jahre 1054 fand hier die bittere Schlacht der königlichen Brüder García von Navarra und Fernando I. von Kastilien statt, in welcher der navarresische König aus der Hand des Bruders den Tod empfing. Es gibt halt Plätze, da passiert immerfort etwas Grausiges, was nur der Mensch dem Menschen antun kann. Der Tod war überall. Ich verbrachte einige Zeit am Gipfelkreuz, sah dabei hinunter nach Burgos und hielt etwas Fürsprache mit dem Herrn. Eigentlich war ich froh, nicht alles verstehen zu müssen. Ein andersmal vielleicht, nicht heute. Es war ein beunruhigender Ort, hier wollte ich nicht bleiben. Lieber bestieg ich wieder den Camino, der nun endgültig die Berge von Oca verließ und steil ins Tal von Arlanzón und nach Burgos führte.
In der nächsten Ortschaft, die den originellen Namen Cardeñuela de Ríopico trug, sollte es auch eine Herberge geben. Inzwischen wurde es immer wärmer und schwüler. Diese Klimaschwankungen waren ja direkt absurd. Als ich unten im Dorf ankam, fand ich dort alte Bekannte, die Nepal-Amerikaner, vor der versperrten Herberge sinnlos herumhängen. Es war übrigens das letzte Mal, da ich sie traf. Auch sie hatten die Nase gestrichen voll. Empört wiesen sie auf ein handgemaltes Schild, das verkündete, die Herberge sei vorübergehend geschlossen. Aus Gründen, die es sich nicht lohnte zu eruieren. Doch fiel der Verdacht fast zwangsläufig auf die Dorfpension ein Stück weiter, die auf diese Weise vielleicht Gäste anlocken wollte. Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, daß viele Touristen in dieses verlassene Dorf kommen, um siebzig Euro in einer Casa Rural für die Nacht zu zahlen, wenn sie dasselbe im touristisch attraktiven Burgos ebenfalls tun können. Es kamen also nur fußlahme erschöpfte Pilger als Kunden in Frage, die sonst keine andere Übernachtungsmöglichkeit fanden. Zwangsläufig landeten auch wir da, aber es herrschte noch die heilige Siesta, und kein Einheimischer
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