Bis ans Ende der Welt
Abzocke. Ein kastilisches Sprichwort bezeichnet die Montes de Oca gar als Räuberhöhle: „Wenn du rauben willst, geh in die Oca-Berge!“ Nur die ganz hohen Lagen sind noch bewaldet, das Tal ist fast kahl. In den endlosen Kornfeldern wuchern in Abständen große stachelige Gebüschinseln. Die kahlen Hügel zeigen tiefe Einschnitte, wo einst Bäche flossen. Würde der Regen nur eine einzige Saison ausfallen, der Wind würde die fruchtbare Erde wegtragen, und es wäre aus mit dem kastilischen Korn. Dank der globalen Erwärmung soll das ohnehin die Zukunft Spaniens sein. Wie in Nordafrika, wo noch zu Zeiten des Römischen Reiches die Kornkammer Europas lag. Heute ist dort alles wüst. Kein Wunder, wenn alle etwas mürrisch waren. Man stampfte durch die flimmernde Luft wie durch Wasser, schwitzte und litt. Sogar der japanische Samurai in seiner grenzenlosen Zurückhaltung. Es herrschte eine bissige Stimmung. In einem Dorf sah ich oben auf der Mauer von einem Ast eine saftige Birne hängen. Ich war wie verzaubert. So ein Wunder! Ein Baum, der tatsächlich reife Früchte bringt, wo gab es hier denn so etwas? Und ich hatte nicht einmal mehr ein Stück Brot. Mit meinem überlangen Pilgerstab war es gar kein Problem, die große, saftige Birne runterzuholen. Unüberlegt, wie sich gleich herausstellen sollte. Die Birne landete noch nicht auf der Erde, schon ertönte ein schlimmes Gezeter aus einem der Häuser einige Hundert Meter weiter. Der mutmaßliche Besitzer des Gartens meldete sich wutentbrannt zum Wort. Wer weiß, wie viele von seinen Birnen schon in den Bäuchen durstiger Pilger verschwunden sind. Doch was nun? Das gute Stück war schon herunter und noch dazu etwas angeschlagen. Ich nahm eine Münze, zeigte sie dem Mann, legte sie zwischen die Steinziegel und winkte wie zum Dank zurück. Vielleicht hätte ich die kaputte Birne dort liegen lassen sollen. Der Mann fühlte sich nun gar richtig herausgefordert, schimpfte und tobte, daß ich fürchtete, er könnte aus dem Fenster, das immerhin im ersten Stock lag, hinausfallen. Ich sah zu, daß ich weiterkomme. Offenbar hielt nur die enorme Aufregung den Mann von einer gezielten Vergeltung fern. Sonst hätte er mich leicht einholen oder gar seine Flinte herausholen können, wie es mir bei einer frühren Reise durch Spanien schon mal passierte, als ich versuchte, von Erntearbeiten Kirschen zu kaufen. Aber der Erfahrung hätte es gar nicht bedurft. Leuten, die ohne Not auf kleine Vögel schießen, traute ich einfach alles zu.
Burgos, km 2351
Das aber sollte nicht meine größte Sorge sein. Der neue Tag kam, und ich war wieder nicht in Form. Wie seit dem Gewaltmarsch nach Saint-Jean-Pied-de-Port fast ständig. Da hatte ich mich irgendwie zu sehr vorausgabt und konnte es seitdem nicht mehr wettmachen. Auch die letzte Nacht reichte nicht, um mich zu erholen. Die steinigen Wege gaben den Rest. Ich holte mir wieder ein paar Blasen, probierte, um noch größere Schäden zu vermeiden, in den Sandalen zu gehen, davon wurden wieder die Kniegelenke wacklig. Die vermaledeiten Bergschuhe hätten der Inquisition zur Zierde gereicht — als Spende an die Ketzer. In Wirklichkeit stammten sie von einer deutschen Traditionsfirma, bei der ich eigentlich schon immer meine Stiefel kaufte und bisher zufrieden war. Aber die gute alte deutsche Fertigungstradition scheint heute keine Rolle mehr zu spielen. Man läßt modern, globalisiert und vor allem billig in China arbeiten und gibt dann der Sache den guten Namen. Hauptsache, die Kasse stimmt, andere Werte scheinen vergessen. Eine Weile saß ich am Wegrand mit dem Jungen aus Düsseldorf, der ein anderes Modell desselben Herstellers trug, doch mit gleicher Wirkung. Wir beschlossen, aus Rache unser Schuhzeug nach der Pilgerreise mit dem entsprechenden Dankesbrief an die Firma zurückzugeben. Hier verlor Meindl gleich zwei Stammkunden für immer.
Das aber war mir kein Trost. Eher spekulierte ich auf einen freien Erholungstag in Burgos. Aber bis dahin waren es noch fast fünfzig Kilometer. Ich litt, daher kam mir die ganze Gegend nicht so anziehend vor, wie es die Montes de Oca verdienen würden. Die Paßhöhe hinter Villafranca erreicht 1150 Meter. Endlich mal wieder Bäume sehen! Den Ausblick fand ich deshalb nicht so schlecht. Die Ortschaften aber wirkten armselig. Irgendwie verfiel hier alles. Oder es sah so aus wie vor vierzig Jahren auch schon. Manche Häuser, auch eine historische Kirche darunter, bestanden nur noch aus Fassaden. Innen war
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