Bis ans Ende der Welt
geduscht, umgezogen, frisch und rosig — eine Sonnenecke des Innenhofes, versorgte meine Wunden und ließ sie an der frischen Luft trocknen. Ich las und schrieb und machte neue Bekanntschaften. Das war nicht schwierig. Die Leute kamen vorbei, besahen meinen Fuß und fragten, wann ich nach Hause zu fliegen gedenke. So kam man ins Gespräch. Von den alten Bekannten waren nicht viele da. Die meisten zogen die Stadtunterkunft vor oder suchten sich ein billiges Hotel, wenn sie vorhatten, länger in der Stadt zu bleiben. Doch Junzo war da, und mit dem sympathischen Trio aus Bordeaux — zwei Frauen und ein gutgelaunter Kerl als Helfer und Beschützer — verabredete ich mich zum Abendessen in der Altstadt. Rasch füllte sich der Hof mit Neuankömmlingen. Es war ein Wochenende und immer mehr Menschen, die hier in den Camino einsteigen wollten, kamen vom Flughafen an. Die Mehrheit davon Deutsche aus Nordrhein-Westfalen und anderen „preußischen“ Provinzen, aber auch alle möglichen Nationen sonst. Auch ganz komische Typen waren darunter. Im Aufenthaltsraum sprachen mich zwei Franzosen an, die mich vermutlich wegen meiner Lektüre für einen Landsmann hielten. Sie sahen ziemlich suspekt aus, kräftige Kerle mit groben Gesichtern. Es hätte wirklich nicht bedürft, daß einer von ihnen obszöne Papstwitze erzählt und eine verschlossene Glasvitrine mit recht wertlosen Souvenirs zu knacken versucht. Während ich vor dem Abgang noch das Glas spülte, zauberte der zweite flink ein paar Latexhandschuhe aus der Tasche, streifte sie sorgsam über und prüfte an der Tischkante die Schärfe eines Messers, das er sich aus der Küchenschublade holte. Ausgerechnet hier und heute tat sich ein Loch auf, aus dem all die biblischen Plagen hinauskrochen und bei mir neue Heimat suchten.
Und nicht nur bei mir. Als ich von der Besichtigung der Kathedrale zurückkehrte, traf ich einen völlig aufgelösten Junzo. Jemand habe ihm das Tagebuch gestohlen, berichtete er. Die zwei Hefte seien in einem Beutel auf seinem Bett gelegen, sonst sei auch nichts drin gewesen, was irgendwie wertvoll wäre. Nun erinnerte ich mich, daß an der Pforte ein Zettel vor Dieben warnte. Jeder möge auf seine Wertsachen achten, das Haus übernehme keine Haftung. Aber was waren da schon „Wertsachen“. Für Junzo war das Tagebuch sein Wertvollstes, und ausgerechnet das hat man ihm geklaut. Es wäre möglich gewesen, daß der Dieb irgendwo in der Umgebung des Hauses die für ihn wertlosen Sachen in eine Abfalltonne schmiß. Also bot ich mich an, die umliegenden Abfallbehälter durchsuchen zu helfen. Wir taten es, stöberten zum Abscheu der Passanten im Abfall, fanden jedoch nichts. Was die Möglichkeit immer wahrscheinlicher machte, daß der Dieb aus den eigenen Reihen kam. Junzos Tagebuch war ja in allen Munde und hatte viele Bewunderer. Und offenbar einen zu viel. Niemand wollte etwas gesehen haben, und den meisten war es auch ziemlich gleich. Was ging sie Junzo an, er hätte auf seine Sachen besser aufpassen und nichts herumliegen lassen sollen. Das war die häufigste Meinung unter den Piefkes. Für sie war es wieder einmal eine gute Gelegenheit, sich cool und überlegen zeigen zu können. Mich überraschte es freilich nicht. Bestenfalls konnte es meine Vorurteile bestätigen, falls es denn welche waren. Religiöse Motive hatten auch hier die wenigsten. Das stand fest. Von den hundertfünfzig Gästen in der Pilgerherberge kam nur etwa ein Dutzend in die Klosterkapelle zu der gesungenen Vesper mit anschließender Messe. Die Schwestern sangen wie Engel, obwohl von dem einst so mächtigen Kloster mittlerweile nur etwa fünfundzwanzig, meist alte Nonnen übrig blieben. Überall gehen heute die Klöster am Zeitgeist zugrunde. Erst zu der allseits populären Pilgersegnung füllte sich die Kapelle. Aberglaube statt Christenglaube. Über religiöse Themen wie noch in Frankreich wurde hier in Spanien kaum gesprochen. Religion, Gelübde, Suche nach Gott waren meist nicht der Grund, warum sich diese Massen auf den Weg machten. Ein netter junger Deutscher sagte es offen: Für ihn sei es die billigste Art zu reisen, sonst müßte er zu Hause hocken. Damit stand er nicht allein. Dennoch hofften die meisten, etwas zu finden oder loszuwerden, was ihnen im Leben wichtig war. So etwas hat wohl ein jeder Mensch, auch dann, wenn er nicht religiös ist. Das eigentliche Problem lag vielleicht darin, daß man um Mittag in Köln am Rhein einen Flieger bestieg und um vier Uhr auf dem
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