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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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es kaum Warnung gab. Von dem breiten Bahndamm käme man kaum schnell genug weg. Als Pilger von einem Intercityzug überfahren zu werden, war uncool . Außerdem täuschte die Perspektive. Auf dem flachen Land kam einem alles viel näher vor. Die heiße Luft über dem Boden wirkte wie ein riesiges Vergrößerungsglas. Wer weiß, wie weit es auf die andere Seite wirklich war. Lahm und unlustig marschierte ich weiter auf dem steinigen Weg, kam dennoch bald in Reliegos an und damit auch auf die von mir zuvor so ersehenswerte Pilgerautobahn. Sie war tatsächlich frei von Kieselsteinen, aber die noch jungen Bäume boten keinen nennenswerten Schatten, und auch hier mußte man auf den eigenen Beinen stehen.
    Das Ende der Tagesetappe lag für mich in Mansilla de las Mullas, einem, wie sich herausstellen sollte, recht gediegenen und gemütlichen Städtchen mit lauter verschlafenen Gassen und stillen Ecken. Es war die letzte natürliche Übernachtungsstätte vor León, so dachten viele andere Pilger wie ich. Dementsprechender Andrang herrschte schon am frühen Nachmittag in der Herberge. Der Laden war gerammelt voll. Auch ein paar alte Bekannte waren darunter. Man saß im Innenhof und redete wild durcheinander. Alle möglichen Nationen, meist junge Menschen. Man verständigte sich meist in dem jeweils landesspezifischen Denglisch, was gut zu funktionieren schien. Zwei junge russischsprechende Litauer, vielleicht Anhänger des dort angeblich noch überlebenden Schamanismus, wollten in Finisterre nach einer Muschel tauchen, um sie der Oma zu bringen. Sie wollten unbedingt hin, sei es zu Fuß, sei es mit dem Bus, jedoch auf keinen Fall ohne diese Muschel nach Hause zurückkehren. Sie waren wie die meisten Russen nicht gerade leise oder dezent, und ich hörte ihnen eine ganze Weile mit größtem Interesse zu. Sie haben die Sowjetunion nicht mehr erlebt, und ihre Wertvorstellungen unterschieden sich nicht im wesentlichen von denen der anderen jungen Westeuropäer hier, mit denen sie sich somit perfekt verstanden. Auch Koreaner gab es wieder, geistig sehr ähnlich gelagert. Alles globalisierte, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduzierte, fast wertfreie Bilder, wie sie von den allgegenwärtigen Medien über die Grenzen hinweg überall verbreitet werden. Kritisches Denken war nicht gefragt, es herrschte Elan und Begeisterung, Unangenehmes ließ man beiseite. Am Tisch fragte ich einen Südkoreaner nach seiner Meinung zu Nordkorea, aber er verweigerte die Auskunft. Über solche Themen wolle er am Tisch nicht reden. Es sei darum, so wichtig war mir die Antwort auch nicht, und ich überließ ihn der blonden Walküre, diesmal ohne den stiernackigen Geschäftsmann, um sich über die Wohltaten des einfachen Lebens aus dem Rucksack und der wunderbaren Völkerverständigung hier auszutauschen. Unter anderen Umständen wäre diese Herberge vielleicht gar nicht so schlecht gewesen. Der Innenhof verlieh ihr ein gewisses Ambiente, die Küche war ausnahmsweise gut sortiert, und die Pilger verteilten sich auf mehrere nicht allzu große Schlafräume. Aber das Haus war völlig überfüllt und die deutschen Verwalter überfordert. Es war recht undeutsch schmutzig und in einem erbarmenswerten technischen Zustand. Elektrische Leitungen im Bad lagen zum Anfassen blank, und während ich duschte, entließ der launische Boiler das Gas unverbrannt in die Umgebung. Man dürfte zwischen Stromschlag und Gasexplosion wählen. Ich verließ mich dabei auf den Schutz des Herren, aber die eiskalte Dusche tat meiner Erkältung nicht gut, und ich murrte dementsprechend. Am Morgen floß zur Abwechslung nur kochendheißes Wasser. Ich murrte wieder.
León , km 2533
    In der Nacht wurde ich fünfmal wach, fand in dem überfüllten Raum keinen Schlaf und keine Erholung, saß sogar eine Weile im Innenhof, bis um sechs Uhr, während es draußen noch völlig dunkel war, alle panisch zu packen anfingen, hastig frühstückten und aus dem Haus liefen, als ob die Pest oder die Rote Armee in Anmarsch wären. Unterwegs jedoch sah ich nicht viele von ihnen, was daran liegen konnte, daß ich mit Junzo ausgiebig frühstückte und erst um acht Uhr, nachdem es hell geworden war, aufbrach. Da war die Herberge längst leer. Ich konnte dann mehr oder weniger allein entlang der vielbefahrenen Hauptstraße nach León marschieren und mich über den Verkehrskrach ärgern. Die Erkältung wollte nicht weichen, und ich machte mir Sorgen um den Fuß. In der Nacht träumte ich, ich müßte deshalb

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