Bis ans Ende der Welt
mitgebrachten schicken Mountainbike in die Herberge von León einfuhr. Oder daß man den Tag im Café verschwenden und dann das Taxi nehmen konnte. Oder daß es so viele ausgerechnet von dieser Sorte gab. Ein billiger, origineller Urlaub mit etwas mehr oder weniger Tiefgang war der Camino Francés . Jeder nach seinem Geschmack, war einer der üblichen Sprüche. Doch gestern in Mansilla traf ich einen Jungen aus Frankreich, für den der Camino kein Billigurlaub war, sondern ein Bittgang, um einmal — hoffentlich bald — eine gute, treue Frau fürs Leben zu finden. Dabei sah er aus, als ob er an jedem Finger zehn Mädels hätte haben können, und nach den feuchtglänzenden Blicken der anwesenden Jungfern zu urteilen, lag ich mit dieser Vermutung bestimmt nicht falsch. Aber er ließ sich davon nicht betören, es sollte ja die nur richtige sein. Ich war sehr beeindruckt von dem nahezu biblischen Glauben, und plötzlich war auch der Herr wieder da, sehr stolz auf diesen seinen Jünger. So sehr, daß ich mich genötigt fühlte, ihm in seinem Namen zu versichern, er werde bestimmt sein Ziel erreichen. Es klingt absurd, aber ich konnte nicht anders.
León ist vermutlich die bedeutendste kulturhistorische Stadt Spaniens. Gegründet wurde es im Jahre 68 als römische Garnison, fiel nach dem Ende des Römischen Reiches im fünften Jahrhundert an die Westgoten und im Jahre 712 an die Mauren. Nach der Rückeroberung im Jahre 856 lag alles in Trümmern, desgleichen nach dem apokalyptischen Besuch des Almazur, der Geisel der Christenheit, im Jahre 988. Als Hauptstadt des Königreichs Léon war es seit 914 fast zweihundert Jahre die wichtigste Bastion der Christenheit auf der Iberischen Halbinsel, Quelle der Reconquista . Zwischendurch schlug man sich mit den kastilischen Herrschern und die meiste Zeit auch untereinander die Köpfe ein. Überall Blut, Symbole und Kulturdenkmäler. Und seit dem frühen Mittelalter auch Pilger nach Santiago de Compostella. Die Stadt verdankt ihnen viel von ihrem Wohlstand und ihrer Bedeutung. Vielleicht deshalb sind die Leonesen zu Fremden freundlicher und aufgeschlossener als die Kastilier. Das kleine Restaurant, wo ich mit den Franzosen zu Abend aß, hätte an diesem Tag eigentlich einen Ruhetag gehabt, machte aber extra für uns auf. Der Chef kam zu verabredeten Stunde, sperrte auf, kochte, servierte und unterhielt uns den ganzen Abend vortrefflich charmant. Und das alles für nur hundertdreißig Euro Umsatz.
Am kommenden Tag tauchte Junzos Tagebuch immer noch nicht auf. Nachdem das Haus leer geworden war, durchsuchten wir noch einmal die ganze Herberge, alle Abfallkörbe und sahen unter den Betten nach. Keine Spur von den Büchern. Junzo, der wie ich heute einen freien Tag nehmen und ruhen wollte, war davon so angewidert und traurig, daß er sich wieder auf den Weg machte. Das sollte ihn ablenken. Ich blieb, und mit mir noch zwei Holländer mit Durchfall. Bald tauchten noch andere Kranke auf. Ein junges Mädchen aus Magdeburg mit einem ernsten Knieproblem, der Engeländer mit dem zerschnittenen Gesicht, ein anderer, der stürzte und sich das Schlüsselbein brach. Doch aufgeben wollte keiner. Wie ich. So saß ich fast den ganzen Tag im Hof auf der Bank, las und schrieb und ließ die Wunde an der Sonne trocknen. Daß ich nicht gehen mußte und hier einfach so, ganz ohne Not bequem sitzen konnte, war nach dem langen Marsch gewohnheitsbedürftig. Immer wieder verspürte ich den Drang aufzuspringen, schnell den Rucksack zu packen und loszugehen, sonst würde ich meine Tagesetappe nicht schaffen. Es war ein Zeichen, daß ich Abstand gewinnen muß. Hier, auf dem Camino Francés , war mein Weg zu sehr vom Willen bestimmt. Hart wie der Kiesel. Das war gewiß nötig, denn der Weg selbst war hart. Und mit dem kaputten Fuß zuletzt noch härter. Aber es war zu viel Willen dabei. Es fehlte die Demut, aus der die Freude und die Geborgenheit im Herrn erwächst. Nur ab und zu flackerte diese Freude auf, wenn der Herr vorbei ging. Wie ein Leuchtfeuer, um mir die Richtung zu weisen. Ich mußte loslassen. Nicht nur von dem Alltag und den Gewohnheiten zu Hause, dem bisherigen Leben, das die Dichtergruppe damals in Le Puy so kunstvoll konferierte, sondern auch von den Gewohnheiten und den Verkrustungen der Pilgerschaft. Der Körper war ein Tyrann. Für seine Dienste diktierte er sich einen hohen Preis. Immerhin tat er was dafür. Aber der meist leerlaufende Verstand intrigierte ständig im Hintergrund, machte den
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