Bis ans Ende der Welt
Körper rebellisch, programmierte neue Routinen, schuf neue Abhängigkeiten, neue Begehrlichkeiten, lehnte das und jenes ab, nichts war ihm gut genug. Und wenn er von all dem genug hatte, schaltete er das Licht aus und ging schlafen, so daß man die geringsten intellektuellen Aufgaben nicht mehr lösen konnte, ohne zuvor einen Antrag in doppelter Ausfertigung zu stellen. So konnte man unerklärlicherweise Bäume und Straßenschilder überrennen, über den Schluchtrand laufen, vom Weg abkommen oder auf dem gleichen Wege, den man gerade gekommen ist, zurücklaufen. Dagegen gab es nur eine Abhilfe, stillhalten und nichts begehren. Hart wie der Kiesel reichte allein nicht aus, man mußte auch noch elastisch genug sein, um bei zu viel Belastung nicht zu zerbrechen. Wie ein edles japanisches Katana-Schwert, das auch den Flußkiesel spaltet.
In dieser schönen Stadt fiel es mir doppelt schwer, im Hof sitzenzubleiben und darauf zu warten, bis sich gesunde Hautzellen über das rohe Fleisch ausbreiten. Ich redete ihnen zu, sich mehr zu beeilen, es gäbe nur diesen einen Tag für den Auftrag. Schließlich muß man die Arbeiter motivieren und ihnen das Gefühl geben, daß ihre Mühe nicht umsonst ist und einem guten Zweck dient. Nun sah die Wunde auch schon viel besser aus, die violette Färbung verschwand, und Leute blieben nicht automatisch stehen, um bedenklich mit dem Kopf zu wackeln. Am Nachmittag riskierte ich — in Sandalen und mit gut eingepacktem Fuß — sogar noch einen Gang zur Kathedrale. Sie sei die schönste in Spanien, behauptete der Cicerone. Jedenfalls hundertprozentig so, wie man sich eine Kathedrale vorstellt. Es ist eine Kathedrale par excellence . Sie wurde im 13. Jahrhundert im Stil der französischen Gotik errichtet, hat über zweihundert Fenster von 1800 Quadratmetern Fläche. Und mögen die Basilika San Isidoro und das Pantheon der Könige kulturhistorisch wichtiger und mehr als zweihundert Jahre älter sein, sie sind bestimmt nicht schöner und eindrucksvoller. Nichts schlägt die Kathedrale, auch nicht das erstaunliche Renaissancekloster San Marco aus dem 16. Jahrhundert, aus dem man jetzt ein Luxushotel machte. So saß ich vor dem Gotteshaus und sah einfach hin. Nach einer Weile kam der Herr vorbei und setzte sich hinzu. Dann aber wanderte er über den Platz und gesellte sich zu manchen der Passanten, von denen es hier heute nicht viele gab. Meist waren es Einheimische, die Alltägliches vorhatten. Eine Oma mit Enkelkind, ein Geschäftsmann mit Aktentasche, ein Stadtarbeiter mit Besen und Schaufel. Nur ein paar Touristen, alle ohne Hast und Ziel, mit den Digitalkameras auf die Türme zielend. Die Kathedrale verband uns, sie war unsere Mitte. Immer, wenn der Herr zu einem der Passanten kam, veränderte sich dieser für den Augenblick, strahlte auf, wurde gleichsam durchlässig. Alles lief wie in der Zeitlupe ab, man sah die Sonnenstrahlen wie Regenschauer auf die Erde fallen und von den Steinplatten wieder abprallen. So etwas offenbart sich nicht jedem. Ich sah es und staunte darüber. Dann aber stöberte mich hier Armin, der Italo-Australier, den ich in Roncesvalles kennenlernte, auf. Unpassend, aber man weiß ja nie, wen der Herr als Boten schickt. Außerdem mochte ich ihn. Er hatte eine lebhafte, naive Art, war wie ein Kind, das sich aufmacht, die Welt zu entdecken, dem alles neu und herrlich erscheint. Nur das er es stets mit irgendwelchen komischen Vorerlebnissen vermischte und daraus absurde — doch auch irgendwie wahre — Schlüsse zog. Im Mittelalter hätte er als Hofnarr gewiß Karriere machen können, heute mußte er sich mit der Stellung eines Reiseverkäufers für australischen Wein in Frankreich begnügen. Da aber hatte man ein Narr und Schönseher zu sein. Australischen Wein in Frankreich zu verhökern, so ein Frevel, wer hat das je gehört!
San Martin del Camino, km 2560
Am Morgen war ich schon um sieben Uhr unterwegs. Es war dunkel und kalt. Alles befand sich im Aufbruch, fröstelnde Angestellte hasteten durch die feuchten Straßen zur Arbeit. Niemand nahm Notiz von mir. Nicht einmal die Wasserwerfer, die den Dreck des Vortages wegspülten. Zweimal entkam ich nur knapp der Flut. Aber ich war glücklich, wieder auf dem Weg zu sein. Der Camino in León führt an den meisten Sehenswürdigkeiten vorbei, auch an San Marco. Schon von Weitem konnte man die herrliche, kunstvoll beleuchtete Renaissancefassade des ehemaligen Pilgerklosters bewundern. Sie war so schön, daß ich nicht
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