Bis ans Ende der Welt
Vor dem Rathaus hielt mich ein junger Mann aus Lichtenstein auf, und erzählte mir begeistert von seinem Jakobsweg durch Frankreich. Toll sei es gewesen, gelacht und geweint habe er da wie im Leben noch nie, und er werde den Weg bestimmt zu Ende gehen.
Ich habe die Aufmunterung gut brauchen können. Es gab nämlich absolut keine Übernachtungsmöglichkeit in dieser Stadt. Weit und breit absolut nichts, und ich war fix und fertig. „Es ist wegen dieser verrückten Fußballmeisterschaft,“ erklärte mir der Angestellte im Touristenbüro freundlich. „Für die Leute ist es billiger, hier bei uns zu übernachten und dann nach Zürich zum Spiel zu fahren.“ Das war offensichtlich. Überall sausten Autos mit aufgesteckter Nationalflagge des Fahrzeuginhabers herum. Chinesische Qualitätsware, zeitgenau auf den Markt gebracht. Demnach zu urteilen, lebten hier zu etwa einem Viertel alle möglichen Ausländer. Man hupte, hüpfte, schnitt Fratzen, gestikulierte wild und schrie Unverständliches aus dem Fenster. Eine eher peinliche Hysterie.
Es half auch kein Telefonieren, ich mußte weiter. Dabei habe ich mich auf Rapperswil richtig gefreut. Es ist uralt und entsprechend touristisch reizvoll. Außerdem gibt es hier eine malerische Brücke über den See. Der im Jahr 1358 vollendete Steg war ursprünglich 1450 Meter lang und ruhte auf 546 Eichenpfählen. Heute sind es nur 841 Meter, die Pfähle habe ich nicht gezählt. Doch machte es große Freude, bei schönem Wetter dicht über dem klaren, grünen Wasser zu schreiten. Ich konnte mich davon gar nicht losreisen und vergaß völlig die Müdigkeit. Als ich am anderen Ufer anlangte, war es schon spät. Achtlos lief ich an einem gut besuchten McDonald-Laden vorbei. Ich war in Eile und machte mir Sorgen um das Nachtlager. Es sollte sowieso nur ein gepreßter Strohballen in einer Bauernscheune sein, die irgendwo mitten im Berg oberhalb des Sees lag. Wohl der einzige, den die wütenden Fußballfans noch übrig ließen, dachte ich. Oder auch nicht. Dann hätte ich noch Stunden weitergehen dürfen. Auf rauchenden Sohlen kam ich an und wünschte mir, ich wäre in Fischingen. Dort nämlich ist im Grabmal der heiligen Ida ein viereckiges Loch, und steckt der Pilger wunde Füße hinein, so sie sind danach wieder wie neu. Ungelogen.
Auf dem Bauernhof begrüßte mich eine Kolonie von Zwergziegen. Modernste Schlepper und anderes teueres Gerät parkten ordentlich in einer Reihe. Ein stattliches Holzhaus zierte den Rosengarten. Hier war der Wohlstand wohl daheim, das war augenscheinlich. Nicht wie die verkommenen Appenzeller Bergbauern. Die junge Bäuerin zeigte mir freundlich – heute war jeder freundlich zu mir — die Scheune. Sie war riesig und zu meiner Überraschung völlig leer. „Nein, keine Fußballfans,“ versicherte sie. „Aber im Aufenthaltsraum haben wir heute eine Feier, den, möchte ich Sie bitten, nicht zu benützen.“ Und es gab sonst nichts zu essen und nichts zu kaufen. Sofort sah ich ein, daß es ein großer Fehler war, den McDonald zu verschmähen. Aber der Fluß und der Pilger kehren nicht um. Im Hof standen lose zwei Duschkabinen, und ich ging duschen und waschen, bevor die Partygäste kamen. Üppige Speisen und Getränke wurden bereits im Aufenthaltsraum gestapelt. Rasch wurde es kühl und ungemütlich, und da ich nichts Eßbares bei mir hatte, rollte ich den Schlafsack aus und ging schlafen. Ich konnte ja im Geiste nochmals über den Seesteg laufen.
Aufgeweckt wurde ich nur kurze Zeit später. Die Partygäste kamen, um die Pilgerscheune zu besichtigen. Ein Pflichtbesuch, wie es schien. Eine Weile standen sie andächtig herum, begutachteten Platz und Pilger, nickten anerkennend und gingen feiern. Als ich wieder aufgeweckt wurde, war es draußen schon stockdunkel. Ob ich denn nicht mit essen möchte, da sei so noch so viel übrig. In Wirklichkeit war es so, daß von den eingeladenen freiwilligen Wohltätigkeitshelfern die Hälfte der Dankesfeier fern blieb. Mutmaßlich wegen des Fußballs. So erinnerte man sich des armen, hungrigen Pilgers, und das war gut, denn ich war arm, hungrig und sofort bereit, für fünfzehn fehlende Wohltätigkeitshelfer in die Bresche zu springen. Doch tat ich es bescheiden. Ich wollte die spendablen Schweizer nicht mit teutonischer Derbheit verprellen. Keineswegs drängte ich mich weder am kalten Büffet noch am Grill vor. Auch aß ich nicht ungebührlich viel und zu schnell. Sogar vom Salat aß ich und verlangte kein zweites Bier,
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