Bis ans Ende der Welt
Fußgängerbrücke über den Canal des Savières voller Boote und einer Häuserfront entlang des Kais. Chanaz hieß dieses romantisches Städtchen mit knapp fünfhundert Einwohnern und mindestens doppelt so vielen Touristen. Ohne die Touristen gäbe es aber nicht das Geld, um den Ort attraktiv zu machen. Es bliebe vermutlich nur ein verlassenes, schäbiges Nest, von dem die Jugend auszieht, um anderswo das Glück zu suchen. Früher einmal stellte der Kanal noch eine wichtige Handelsverbindung zwischen dem Lac du Bourget mit der Rhône dar, aber das war mal. Heute fahren die Güter auf der Autobahn und hier nur Ausflugsboote. Was mir nur recht sein konnte. Ich schlenderte herum, genoß die romantische Atmosphäre und hielt ein Auge für etwaige Lebensmittelgeschäfte offen. Die gab es aber nicht. Oder zumindest nicht hier auf der Hauptstraße.
Ich besuchte die Kapelle aus dem 15. Jahrhundert, dann noch die hydraulische Ölmühle, und war gerade dabei, den Weg fortzusetzen, als ich über die zwei Engländer vom Vortag stolperte. Sie haben sich es unter dem Sonnendach einer Gartenwirtschaft gemütlich gemacht und luden mich zum Bier ein. Wer würde widerstehen? Aber eigentlich hätte ich es auch besser wissen können. Ich lebte ja lange genug in England und kannte die Sitten. Eine Person bestellt die erste Runde, dann revanchiert sich der Rest auf gleiche Weise. Da man aber, wie es unter den Bajuwaren heißt, nicht auf nur einem Bein stehen kann, kann es auch vorkommen, daß der Erstbesteller aus Lust und Tollerei noch eine weitere Runde bestellt. Dann wiederholt sich das Ritual, bis entweder das Lokal schließt, und der Wirt alle Gäste auf die Straße setzt, oder die Trinker nicht mehr können. Aus meiner Erinnerung kannte ich eigentlich nur den ersten Fall, deshalb schlossen in England zu meiner Zeit alle Kneipen schon um elf Uhr abends. Es war gewiß ein weiser Brauch. Hier also waren wir drei Personen, die Sonne stand noch hoch, das Personal war willig und rege, ja man konnte sagen, voller Bewunderung für die britische Trinkfestigkeit, und bis ich mich umsah, hatte ich sechs gute kühle Maß intus. Wenn man freilich bedenkt, daß ich den ganzen Tag wie die Tür vom Stall schwitzte und keinen einzigen Menschen sah oder sprach, so hatte ich sowohl die Flüssigkeit als auch die Unterhaltung recht nötig. Ich mochte die Engländer, Vater und Sohn aus besseren Verhältnissen, und sie mochten offenbar auch mich, und wir alle genossen das zotige englische Understatement und lachten viel, und die Franzosen um uns herum spitzten die Ohren und versuchten aus dem nordenglischen Dialekt etwas Brauchbares herauszufiltern, woran sie lustvoll partizipieren könnten, aber das vermutlich umsonst, weil Franzosen immer noch nicht auf Fremdsprachen stehen, und warum sollten sie, wenn sie selbst eine so schöne Sprache haben. Andere Völker, so etwa auch die Deutschen, haben nicht so viel Glück und müssen versuchen, sich im gebrochenen Englisch untereinander zu verständigen. In Deutschland heißt diese Sprache dann folgenrichtig Denglisch und wird überwiegend von Politikern und Managern sowie auf den Bahnhöfen benützt. Akzent und Intonation richten sich dabei ausschließlich nach dem Heimatdialekt des Sprechers und sind daher den andersstämmigen Germanen nicht immer verständlich. Für die Kommunikation mit anderen Völkern ist aber hinderlich, daß in Denglisch englische Wörter häufig andere Bedeutung haben.
Aber das sollte an diesem Nachmittag nicht meine Sorge sein. Vielmehr machte ich mir, wie schon erwähnt, nach dem sechsten Glas langsam Gedanken, wie ich nach Montagnin kommen sollte, denn der kleine Weiler lag irgendwo hinter dem Berg, und meine Kräfte schwanden zusehends. Merkwürdigerweise schien das letzte Wegstück immer irgendwo hinter einem steilen Berg zu liegen, manchmal jedoch auch mittendrin. Dessen eingedenk verzichtete ich auf die dritte Runde. Bill Jones und sein Sohn waren fein raus, sie logierten bequem und teuer in einem Hotel vor Ort. Angeblich hätten sie sich „fast Sorgen“ um mich gemacht, als ich so schwankend davon zog, erzählte mir Bill dann einige Tage später bei einem anderen Biergelage, dann hätten sie sich aber meiner Bergerfahrung und des Glücks besonnen und weiter gezecht. Was soll’s, sie hätten mich ja sowieso nicht tragen können. So flatterte ich fröhlich den Berg hoch, bis ich mich an einer Baustelle hoffnungslos verhedderte und warten mußte, bis einer des Weges kam, um
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