Bis ans Ende der Welt
fast neunhundert Meter hoch. Ich bereitete mich auf eine anstrengende Tour vor. Noch genoß ich unter einem alten steinernen Pilgerkreuz gute Jause mit all den lokalen Spezialitäten, die ich in der Stadt zu kaufen bekam, und war mit allen Sinnen froh dabei. Später ging es auf engen Pfaden immer höher und höher mit ziemlich spektakulären Sichten von den Klippen über die hundert Meter tiefer liegende Rhône, bis ein wilder, struppiger Urwald alles schluckte. Endlos zog sich der Weg, herzhaft bissen die Insekten zu, schnell wurde die Wasserflasche leer. Doch meine gute Stimmung blieb. Ich überwand die höchste Stelle, den Mont Tournier, fand kurze Zeit später tatsächlich hinter einer Jaghütte einen funktionierenden Wasserhahn und ruhte mich in einem Stuhl auf der Veranda aus, als ob mir der Laden gehörte. Ich glaube, wäre da eine Axt herum gelegen, ich hätte noch ein bißchen Holz gehackt. Als es donnerte, ging ich weiter. Irgendwo über den Baumkronen, hinter Berg und Tal, zog wieder ein Gewitter heran. Das war das neue, französische Wetter. Erst Sonne und große Hitze, dann starke Gewitter mit viel Blitz und Donner. Na und? Alles war bestens.
Außer des Esels, der vor mir ging. Zum ersten Mal tauchte seine Spur irgendwo knapp unter dem Berggipfel auf. Wie aus dem Nichts, was mich aber nichts anging. Auch ein Esel hat seinen Platz auf der Welt und kann überall frei herumlaufen, ohne mich nach Erlaubnis zu fragen. Weil er bekanntermaßen faul ist, sucht er sich immer den günstigsten, bequemsten Weg, dem man nur zu folgen hat, wenn man auch faul ist und sich Mühe sparen möchte. Darin war ich allerdings auch ohne Esels Hilfe recht geschickt. Ich wußte, wohin man zu treten hat. Da aber lag schon ein Misthaufen. Das Gehen erforderte mehr Geschick, Ausweichen kostete Kraft. Auf diese Weise haben schon die Kühe als Spezies all meine Sympathien verspielt, sofern ich zuvor überhaupt welche hatte, nun sollten Esel und Maultiere folgen. Bis Le Puy und darüber hinaus durch ganz Frankreich habe ich deren noch viele gesehen. Unter den Pilgern genießen sie große Beliebtheit. Der Pilger und sein Esel sind sozusagen ein perfektes Paar. Theoretisch könnte das Tier das Gepäck seines Gebieters tragen, trägt dann aber meist nur das eigene. Mehr erlaube die menschliche Zuneigung wohl nicht. Der Esel weiß es irgendwie und macht das Beste daraus. Er läuft so schnell und so weit, wie es ihm recht ist, pausiert oft und lange und frißt reichlich. Als Helfer taugt er also nicht viel. Dafür ist er dem Pilger ein guter Freund und der Beweis seiner Entschlossenheit, das ersehnte Ziel zu erreichen. Für einen kleinen, unbedeutenden Ausflug ins Grüne würde man sich doch keinen Esel zulegen. Man kann ihn unterwegs mieten, wenn man das nötige Kleingeld hat. Der Preis liegt irgendwo bei einem billigen Leihwagen. Etliche Angebote hingen an Bäumen, Zäunen und in den Herbergen aus. Das Pilgergeschäft hatte Facetten, die es noch zu ergründen gab.
Am Nachmittag holte ich Bill und Robin ein, was eigentlich nicht sein dürfte, weil sie hinter mir waren und mich unterwegs nicht überholten. Aber es gab noch eine Alternativroute durch das Tal. Laut Führerauskunft war sie weniger spektakulär, jedoch kürzer und bequemer. Mich zogen immer die schwierigeren Wege an, wenn sie Anmut und Schönheit ahnen ließen. Hier wie im Leben. Bill, ein Pilgerprofi, wußte alles über die klugen Esel und ihre Sitten: „Follow the shit.“ Dabei schritt er rasch und beständig aus. Vermutlich sind Briten die besten Fußläufer der Welt, sie bringen darin verblüffende Leistungen zustande. Im zweiten Weltkrieg marschierte eine britische Militäreinheit ohne jeglichen Nachschub Tausende Kilometer durch Burma, um den Japanern in den Rücken zu fallen. Im Falkland-Krieg taten sie nach einem forcierten Dreitagesmarsch dasselbe den Argentiniern an. In den Bergen von Wales, Schottland, und wo immer ich mit den Engländern zu Fuß unterwegs war, konnte ich mir eigenes Bild von ihrer Zähigkeit machen und lernte dabei so einiges. Ich mußte an Tempo zulegen, um mitzukommen. Aber das konnte mir nur recht sein, denn das Gewitter holte uns langsam ein. Es ging alle möglichen Pfade rauf und runter, rechts und links, bis endlich die Herberge auf einem steilen Hügel in Sicht kam. Der Himmel verdüsterte sich bis zur Dunkelheit, ein leichter Regen setzte ein, und wir nahmen den senkrechten Hügel im Sturm. Wer weiß, ob ich auch allein noch die Kraft
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