Bis ans Ende der Welt
mir weiter zu helfen. Bis dahin lief ich ungeduldig hin und her wie ein durstiger bayerischer Löwe. Dann aber war ich wieder auf dem richtigen Pfad, ganz allein in den schönen französischen Alpen, sang und jodelte frohgelaunt und erreichte so meine Herberge. Früher einmal war es eine Wassermühle, und folglich hieß sie Le Moulin . Zusammengesetzt aus rohen Granitsteinen war sie nun aufwendig restauriert und sehr komfortabel. Es war niemand daheim, also wartete ich auf Weisung der Nachbarn im Garten auf dem Liegestuhl, sah mit zugekniffenen Augen in die untergehende Sonne und hörte dem Rauschen des Gebirgsbaches zu. Es war herrlich und anmutig wie in der Kirche, und bis die Besitzer nach Hause kamen, war ich wieder fast nüchtern. Zumindest so gut hergestellt, daß ich zum Abendessen reichlich am Wein und Cognac partizipieren konnte. Alle vier Gänge waren köstlich und verdienten es, mit gutem Tropfen begossen zu werden. „Wein auf Bier, das rate ich dir,“ besagt die bayerische Volksweisheit. Ins Denglisch übersetzt würde es heißen: „Wine on beer, no problems, yes!“ Es wurde immer toller in Frankreich.
Le Verney , km 1045
Es mag sein, daß der eine oder andere strenggesittete Leser sich über ein derart ungebührliches Verhalten entsetzt. Aber was soll’s, ich hatte auch einen Grund zu feiern – meine ersten tausend Kilometer. Man kann sie an einem Tag fahren oder in weniger als zwei Stunden fliegen, aber wer legt sie noch allein zu Fuß zurück? Ich besaß keine Vorstellung davon, bevor ich angefangen hatte, und jetzt, wußte ich wirklich Bescheid? Tausend Kilometer, Tag für Tag, über Stock und Stein, Täler und Berge, durch fremdes Land, darüber liest man sonst nur in einem Buch. Da sind tausend Kilometer schlüssig, aufregend und auch ganz einfach. Als Knabe, nachdem ich von der Schule nach Hause gekommen war, machte ich mir einen Haufen belegte Brote, kochte eine Kanne Tee dazu und verkroch mich mit Buch und Proviant auf die Couch, wo ich gemütlich durch alle Kontinente reiste. Weder Hitze noch Kälte, weder Hunger noch Durst der Protagonisten konnten mich aufhalten. Je härter es kam, um so besser schmeckten die Brote. Was täte denn etwa der Kara ben Nemsi Effendi alias Old Shatterhand gestern abend an meiner Stelle? Er säße locker doch wachsam am buschigen Ende eines engen Tales, wo das Bächlein leise plätschert, wo es warm, feucht, sicher und kuschelig ist, nagte genüßlich an einer gut abgehangenen Bärentatze und tränke noch ein paar Schnäpschen mit Lord David Lindsay und Sir Emery Bothwell. Tausend Kilometer lagen hinter mir, und ich tat — genau betrachtet — dasselbe. Unglaublich.
Der Abschied von den netten Menschen am nächsten Morgen fiel mir dementsprechend schwer. Nun ging es aber weiter auf einem schlüpfrigen engen Pfad steil bergab, bis die gequetschten Zehen in der Schuhspitze ächzten, und dann wieder bequemer durch eine hügelige Kulturlandschaft bis zum Fluß, dem ich noch einige Kilometer bis Yenne zu folgen hatte. Das Städtchen wirkte auf mich geradezu idyllisch, alles ging ruhig und gesittet zu, alles war sauber, geordnet und gepflegt. Die Kirche aus dem 12. Jahrhundert zeugte von einer alten christlichen Tradition. Ein veritables Alter für ein Gebäude. Als bei uns der Barock wütete, wurden viele Kirchen neu- und umgebaut, mit allem möglichen Kram vollgestopft. Hier in der französischen Provinz beließ man sie in der alten Bescheidenheit und Strenge. Natürlich standen sie offen. Dafür sind sie ja gebaut worden. Damit man eintritt und betet, oder zumindest stille hält in seinem materiellen Streben, das dem Untergang anheimfallen muß. Aus Ton sind wir gemacht, nicht aber unsere Seele. Ich versuchte, an keiner Kirche, keiner Kapelle, keinem Kreuz einfach so vorbeizugehen. Die Kunst interessierte mich kaum dabei, ich besuchte den Herrn. Manchmal fand ich ihn, manchmal nicht. Nicht immer war er zu Hause, die Stimmung war stets irgendwie anders – sozusagen individuell. Dein Wille geschehe! Oft hatte ich nicht mehr als das vorzubringen. Obwohl ich sonst tausend Wünsche hätte. Auf dem Camino gingen sie mir manchmal aus. Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet . [25]
Yenne liegt auf einer relativ geringen Höhe von über zweihundert Meter. Gleich danach steigt der Grund wieder bis auf
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