Bis ans Ende der Welt
also hatte sie womöglich auch Schmerzen, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ.
Es schien wie verhext hier. Ich machte einen Erkundungsgang durch die Stadt und stöberte auf der Hotelterrasse das Bremer Ehepaar auf. Der Mann ist auf dem Pfad von einer großen Hornisse ins Bein gebissen worden, erlitt einen anaphylaktischen Schock und stürzte bewußtlos. Er kam zwar wieder zu sich, doch sein Bein schwoll beträchtlich an, war gefühllos und so kaum noch zu gebrauchen. Die Ehefrau machte sich große Sorgen. Es schien keinen Arzt in dem Städtchen zu geben. Hinzu kam, daß sie kein Französisch und die Franzosen kein Deutsch und kein Englisch sprachen. Ich lief also wieder zurück zur Herberge und arrangierte einen Termin bei Jörg. Dem waren meine Arbeitsaufträge wohl nicht ganz recht, wollte er doch von allem Alltäglichen freikommen. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu helfen. Ich kam mir wie der gute Samariter persönlich vor. Der große Macher, der allen Hilfsbedürftigen Linderung verschafft. Ein Wort reicht. Und da die Bremer sehr dankbar waren und sich so zeigen wollten, arrangierte ich wie selbstverständlich, daß sie auf ihre Kosten zusammen mit eigenem Gepäck auch das von Joanna transportieren ließen. Dieser Service nämlich wurde auf dem Aushang der Herberge für acht Euro je Rucksack angeboten. Joanna hätte sich das nicht leisten können. Damit stand auch fest, daß wir in dieser Stadt zusammen mit den Bremern einen Tag Pause einlegen müssen. Ich fragte vorher beide Mädchen einzeln, ob sie mich noch als Begleiter wünschten, und sie sagten ja mit großem Ernst. So war alles wieder beim alten. Doch für unsere kurze, zarte Beziehung war das heute eine ziemliche Krise.
Wegen der Reiseunterbrechung hatten wir an diesem Nachmittag viel Zeit zum Duschen, Waschen und Einkaufen. Die Mädchen verkrochen sich in die Schlafsäcke und schliefen um die Wette. Um sechs aber waren sie fertig zur Messe. Den Gottesdienst hielt wieder der mitpilgernde Priester mit seinen Neffen als Ministranten. Leider gingen die Pfadfinderinnen verschütt, ich vermißte den Choral. Nach dem Gottesdienst kochten und aßen wir dann alle zusammen an dem langen Tisch im Aufenthaltsraum. Ich habe mich gefreut, den Geistlichen noch ein wenig mehr kennenzulernen. Er war ein angenehmer Tischgenosse. Wir teilten mit ihm unseren Wein, und er mit uns eine Flasche lokalen Kräuterlikörs. Schade nur, daß mein Französisch keine zu komplizierten Gespräche erlaubte. Obwohl ich bei Elisabeth den ganzen Tag Freiunterricht hatte. Ich war immer noch in der Hör- und Fühlphase. Deshalb versprach ich fest, bald nochmals nach Frankreich zu kommen und nicht eher weichen, bis ich die Sprache perfekt sprach. Vielleicht könnte ich ein Lektorat oder ein Stipendium bekommen.
Ich stellte mir die eintätige Ruhepause etwa wie in einem Hotel vor. Man bleibt auf dem Zimmer, schläft sich aus, frühstückt spät und verbummelt den Tag. Doch so funktionieren nicht die Gîtes. Sie sind nicht zum Wohnen, sondern nur zum Übernachten da. Sonst würden sie womöglich der lokalen Gastronomie billige Konkurrenz machen. Um halb Zehn in der Frühe wurden wir rüde von der Putzfrau rausgeschmissen. Da haben wir nicht einmal gefrühstückt. Keine Diskussion, keine Ausnahmen. Nicht einmal das Gepäck durften wir auf dem Zimmer lassen. Arme Joanna, ihr hätte es wirklich gutgetan, wenigstens den einen Tag nur zu liegen. Statt dessen schlichen wir nun im Nieselregen durch nasse Gassen. Gut, daß es Sonntag war und um zehn Uhr ein Gottesdienst. Der wurde jedoch von dem Ortspfarrer gehalten. Sehr feierlich. Die Kirche war bis auf den letzten Platz voll, alle sangen aus vollem Hals, wenn auch keinen Choral. Der Pfarrer schmetterte eine beherzte Predigt ohne jeglichen liberalen Schnickschnack hin. Keine Schonung für die Sünder, wie in meiner Heimatpfarrei leider sehr häufig. Nun aber passierte, daß Elisabeth die Heidin Joanna mit zur Kommunion schleppte. Das tat sie immer. Wie bisher überall sonst bekäme sie statt der Hostie nur den Pilgersegen. Als aber der alte Pfarrer hörte, sie sei nicht einmal getauft, schmiß er sie hochkantig hinaus. Es war ziemlich peinlich, und die liebe fromme Sissi wußte ein Moment lang nichts Passendes zu sagen. Nicht einmal das große A. Ich allerdings als ein alter Pilgerhase murrte halblaut und ließ mich von dem strafenden Blick des Pfarrers nicht einschüchtern. Joanna war — getauft oder ungetauft — ein frommes
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