Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Währenddessen überho l ten uns die Neupilger mit Vehemenz. Wozu Kraft sparen auf dem Kriegspfad? Der Auftrag war klar definiert: Zügig bis Santiago vorstoßen, die Pilgerurkunde sichern und pünktlich zurückzukehren. Der Rückflug stand schon fest. Am Abend diskutierte man gern, wie man noch schneller vorankommen könnte, um am Ende ein paar Tage Urlaub herauszuschlagen. In Frankreich galt ich noch als ein tüchtiger Läufer, hier hatte ich Mühe mitzuhalten. Ich „tröstete“ mich mit dem Gedanken, ihre Selbstherrlichkeit bald blättern zu sehen, und hatte dazu noch ausreichend Gelegenheit. Blutige Blasen, Gelenkschmerzen, Hitzeschlag, Dünnschiß. Dann aber taten mir die Leute leid, auch wenn ich ihnen umgekehrt selbst vielleicht gar nicht leid täte, und ich mußte an Joanna denken, wie sie u n terwegs vor Schmerzen weinte. Ein mitpilgernder Portugiese aus Deutschland klärte mich jedoch auf, bei seinen Landsleuten sei gerade das Leiden das W e sentliche daran. Man lege Nägel in die Schuhe, peitsche sich aus. Eine fragwü r dige Auffassung, wenn man mich fragte. Ich sah noch die freudig händereibe n den Holländer in Roncesvalles vor mir, wie sie sich freuten und schwadronie r ten, der wahre Pilger müsse leiden, köstlich sei das.
Wir erreichten bald eine sehr schöne Herberge, ein Stadthaus mit einer großen, schattigen Veranda über dem Platz, mit kleinen, gemütlichen Zimmern. Es war fast wie ein Zuhause. Auf der Veranda konnte man bequem die Wäsche troc k nen, dabei in Ruhe lesen oder kleine Gespräche führen. Es herrschte eine herzl i che, aufrichtige Stimmung. Früher einmal war das eine Weinkellerei. Heute diente der Keller als Speisesaal. Alte Möbelstücke sorgten für Ambiente. Die Weinberge gaben noch Frucht, der kleine Ertrag lohnte sich allerdings nicht vermarktet zu werden. Die Wirtin ließ uns zum guten Abendessen soviel davon trinken, wie jeder nur mochte. Ich mochte sehr. Sogar die verwöhnten Franzosen waren von Speise und Trank angetan. Vor lauter Übermut stieß ich mir die Zehe an der Stufe vor der Zimmertür auf. Einen Augenblick dachte ich gar, sie sei g e brochen. Sie war es nicht, aber eine kleine Weile hatte ich Angst, hier vielleicht aufgeben zu müssen. Ich schimpfte mit mir, mich auf meine Aufgabe besser zu konzentrieren statt sinnlos herumzublödeln. Ein masochistischer Portugiese m ö ge vielleicht gerne mit gebrochener Zehe weitergehen, ich aber nicht. Dann aber kam mir, daß der Herr einem immer nur soviel auflegt, wieviel man wirklich tragen kann. Ein Kirchenlied fiel mir ein: Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, / verricht das Deine nur getreu / und trau des Himmels reichem Segen, / so wird er bei dir werden neu. / Denn welcher seine Zuversicht / auf Gott setzt, den ve r läßt er nicht. [58]
Villamayor de Monjardin , km 2165
Am Morgen schon waren alle Gaumenfreuden des Vortags vorbei und verge s sen. Die Hitze fürchtend schlichen die Pilger bereits um sechs Uhr aus der Stadt. Im Halbdunkel sah sie alt und müde aus. Eine verfallene römische Brücke und die Reste der Römerstraße zeugten von ihrer langen Geschichte. Der frühe Au f bruch war eigentlich unnötig. Es sah nämlich nach Regen aus. In der Herberge gab es keine Möglichkeit zu frühstücken, und alle Geschäfte hatten noch zu. Es blieb nichts anderes übrig, als kalt und hungrig weiterzugehen. Philippe schien es nicht zu bedauern, legte dann auch gleich los, daß keiner mehr die Chance bekam, uns noch zu überholen. Bereits um zehn Uhr hatten wir die ersten zwa n zig Kilometer hinter uns, das war ja fast die ganze Tagesetappe. Erst da stießen wir auf einen kleinen Laden und konnten Lebensmittel für die Mittagspause kaufen. Ich ließ mir ein herrliches Schinkensandwich machen und nahm ein Trinkjoghurt dazu. Das Brot war noch warm und das Joghurt herrlich kühl, und ich wollte beides noch in diesem jungfräulichen Zustand konsumieren. Und während ich mir die frischen Sachen schmecken ließ, zog Philippe stur weiter. Er wolle lieber in dem nahegelegenen Benediktinerkloster Irache Mittagspause halten. Das war ein guter Argument. Irache ist zweifellos ein interessanter, ku l turhistorisch bedeutender Ort. Einer ausgedehnten Mittagspause gewiß würdig. Schon unter den Westgoten stand hier eine Mönchsklausur. Sancho I. Garcés, König von Navarra, eroberte es 914 von den Mauren zurück, und es wurde zum geistigen und geistlichen Bollwerk der Reconquista. Die Benediktinerabtei wird zum ersten Mal 958
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