Bis ans Ende der Welt (German Edition)
einweichen lassen - des Kuhstalls eingedenk. Als ich später frisch und sauber in der Bibliothek saß und an dem Tagebuch schrieb, hob sich nach einem he f tigen Platzregen draußen die Wolke und enthüllte im tiefen weiten Tal einen bezaubernden See mit Bergen rings herum. Und die Sonne spann einen präc h tigen Regenbogen über das Paradies. Alle staunten nicht wenig, und hätten sich ein paar Engel vom Aufwind aus der Schlucht hoch tragen lassen, keiner hätte sich mehr gewundert. Engel aber sind unsichtbar.
Das Haus hätte zehnmal mehr Gäste haben können, aber mir war es so nur recht. Hier war Raum vorhanden. Im Haus, in der Kirche, außen – viel Raum. Viel Ruhe. Freilich hatte ich draußen in der Natur immer viel Raum um mich herum, aber sobald ich ein Haus betrat, waren es stets nur beengte Verhältni s se. Irgendwie wuchs in mir das Verlangen nach Raum. Es ließ mich die ganze Pilgerschaft nicht los. Manchmal wachte ich in der Nacht auf und ging aus dem Haus hinaus, um in den Himmel zu sehen. Ich brauchte die Weite des Weltraums, um atmen zu können. Ich dehnte mich aus.
Brienzwiller, km 623
Der nächste Morgen war wieder einmal grau und feucht. Außerdem aß ich am Abend viel zu viel von Rohgemüse mit Mayonnaise, und das lag mir durch die Nach hindurch und immer noch schwer im Magen. Ich stieg in die Schlucht hi n ab und besuchte die Kapellen, holte mir einen schönen Stempel für das Pilge r buch und unterhielt mich gut mit einer freundlichen Schwester im Souvenirl a den. Einige wenige Touristen waren da, alle sehr angetan, daß ich so weit her und hin pilgere, und bewunderten meinen krummen Stab. Da ich für Lob und Komplimente leicht empfänglich bin, fiel mir der Aufstieg aus der Schlucht dann gar nicht mehr schwer. Und um genau zu sein, es ist gar kein Grand Can y on. So wanderte ich recht fröhlich durch den Ort Flüeli Ranft, wo ich auf der Straße keinen einzigen Menschen traf. Mir war es recht, und ich möchte darüber nicht klagen, doch in einem bekannten Schweizer Touristenort keinen einzigen Menschen zu treffen, sollte festgehalten werden. Beim Abstieg zum Sarnersee stürzte ich dann an einer nassen Holztreppe schwer und hätte mir gewiß die Hand und sonst was gebrochen, wäre sie nicht von dem Hirtenstab genau über der Vertiefung zwischen zwei Stufen aufgehalten worden. Punktgenau. Ve r wundert hielt ich inne, während der Stab noch leicht federte. Freilich war ich auch erschrocken, es hätte wieder einmal das Ende der Reise sein können, aber hauptsächlich lobte ich den Herrn sehr, daß er mir trotz meiner Duseligkeit i m mer wieder aus der Patsche half. Das war jetzt wohl im Programm, wenigstens einmal täglich vom Herrn aus der Patsche gezogen zu werden. „Aber Schuld ist das Wetter,“ redete ich ihm zu, „man ist steif, alles ist rutschig und morsch und überhaupt.“ Der Herr hörte mich, und in der Tat fiel kein Regentropfen mehr in meiner Nähe, solange ich noch in der Schweiz war.
Ich stieg vorsichtig zum See ab, erhoffte mir eigentlich viel davon, aber der Ort Sachseln brillierte nur mit Baulärm, Beton und moderner Landgestaltung. Was der Bulldozer nicht schaffte, wurde gesprengt und geplättet. Die Gemeinde ist 1997 von einer Schlammlawine zerstört worden, und nun versetzte man die Be r ge ein wenig zur Seite, damit es nicht nochmals passiert. Kein Problem heute, außer es fließt kein Geld. Seit der Steinzeit lebten hier Menschen, aus dem 11. Jahrhundert stammt die erste Erwähnung, doch jetzt nahmen die Katastrophen einfach überhand. Sicherheit geht vor Anmut. Darüber verlor auch ich die Or i entierung, lief ziellos herum, und keiner wollte und konnte mich auf den rechten Weg zurückbringen. Dabei lag vor mir noch der Brünnig, ein Paß über tausend Meter hoch. Den mußte, wollte ich heute noch schaffen. Dahinten lag der Süden, die Seen, die schneebedeckten Berge, der Wein. Und hier lief ich durch eine elende Streusiedlung wie die Ameise herum, und jeder, den ich fragte, kam g e rade aus irgendeinem anderen Teil der Schweiz oder gar der Welt an und wußte nicht, wo links und rechts lag. Ich wollte es den Leuten fast schon zum Vorwurf machen. Wären sie doch besser zu Hause geblieben oder zumindest ihre neue Heimat gründlich erkundet! Wie täte es jetzt meinen müden Beinen gut. Dann, schon am Ortsausgang, sah ich einen Polizisten, der mich auch gleich scharf ins Auge faßte, und so beruhigte ich mich sogleich, grüßte einheimisch mit „Grü e zi“. Die
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