Bis ans Ende der Welt (German Edition)
eine ganze Weile. Ich war froh, kein gefangenes Fohlen zu sein, sondern frei und fröhlich unter dem blauen Himmel talabwärts zu schreiten. In einem urigen Dorf strahlten die Geranien vor den alten Holzhäusern so rot, daß ich mich eine Weile auf einer Steinmauer au s ruhen mußte. Eine Frau kam sofort hinaus. Ich sagte: „Friede sei mit euch!“ Sie grüßte mürrisch zurück – norddeutsch. Dann verkroch sie sich hinter dem Ei n gang und lauerte. Andere in den Nachbarnhäusern taten dasselbe. Keiner sagte was, keiner fragte was, man lauerte. Das ganze urige Relikt der Schweizer Dor f architektur war wohl fest in bundesdeutscher Hand und handelte danach. Ich wollte es den Leuten nicht zu schwer machen und zog bald weiter. Habe ich i h nen damit Freude gemacht?
Schneller als ich dachte kam ich so nach Brienz. Es liegt recht romantisch am Ufer des gleichnamigen Sees, umgeben von hohen Bergen. Besiedelt wurde die Gegend seit dem 7. Jahrhundert, bis es vom Alpenhochwasser 2005 fast zerstört worden wäre. Aber der Mensch läßt sich nicht aufhalten. Autos, Touristen und Hektik herrschen wieder. Eine ganze Stunde hatte ich sie auszuhalten, während ich auf das Schiff wartete. In der Zwischenzeit, um den Schweizer Bauern die Stange zu halten, trank ich frische kalte Milch und bekam prompt einen Durc h fall davon. Und während ich so auf dem Anlegesteg saß und unruhig hin und her rutschte, riet mir ungefragt eine echt vornehme Dame, doch unbedingt das Au s flugsrestaurant am anderen Ufer zu besuchen, das sei eine wahre Schlemme r höhle, und der Wein, der Wein erst, der sei ganz vorzüglich zum Fisch. Auch empfahl sie mir, lieber in der ersten Klasse zu reisen, da habe man mehr Se e blick und weniger Touristen. Sie sprach mir aus der Seele, doch vielleicht wegen des Durchfalls verprellte ich sie mit der monströsen Behauptung, in der Schweiz in einem Restaurant zu essen, können Leute aus Mitteleuropa nur zweimal nach dem Ersten im Lotto, dann seien auch sie zu arm dazu. Ich wollte mit der Me i nung einfach nicht mehr hinter dem Berg stehen. Sollten die Schweizer doch die Wahrheit erfahren, klar und deutlich, sie hatten den Volksentscheid und konnten dagegen vielleicht was tun. Die Dame nahm es mit einer typisch Schweizer Hö f lichkeit hin und verzog sich. Ich sinnierte darüber nach und fand, daß ich aus diesem Anlaß nicht gleich so vorlaut hätte sein müssen, und daß aus mir wohl nie ein gut erzogener Junge sein wird, wie es sich meine Mutter wohl mal e r träumt hat. Nie und nimmer, keine Chance, auch nach drei Wochen in der Schweiz nicht.
Ich genoß die kurze Überfahrt über den Brienzer See und den romantischen Walduferweg bis nach Iseltwald auf der anderen Seite. Der Wald rauschte, das Wasser war grün und blau und kristallklar. Trinkwasserqualität. Aus irgende i nem Grund begegnete ich ständig Schulklassen, die an diesem Tag alle einen Wandertag hatten. Ich dachte mir, daß es für die Ministerialbürokraten in Zürich und anderswo gar nicht so unüblich wäre, so einen allgemein verbindlichen Schulwandertag einzurichten. Und daran wäre eigentlich auch nichts auszuse t zen, und ich hätte auch bestimmt nichts dagegen, wäre nur nicht mein Durchfall da gewesen. Ständig mußte ich irgendwo die Hosen runterlassen, und dazumal recht hurtig, und der Wald war dazu einfach nicht immer dicht genug. So eine Schulklasse ist wie ein Ameisenhaufen, hat tausend Füße und tausend Augen, wo soll man sich da nur verstecken? Auch gesetzte ältere Touristenpaare tauc h ten sporadisch wie aus dem Nichts auf. Sie gingen schweigend und scharrten nicht mit den Füßen. Auch im Wald benahmen sie sich ganz korrekt. Auf läng e re Entfernung waren sie nicht so einfach auszumachen. Ich konnte nur hoffen, die Schweizer nicht noch mehr durch meinen Aufenthalt im Lande zu brüski e ren, und versteckte mich hinter großen Steinen am Ufer.
Mein Benehmen an diesem Tag ließ allerhand zu wünschen übrig, das spürte ich ganz deutlich. Im romantischen Iseltwald wollte ich daher mein Gewissen pr ü fen und wanderte in der Mittagsglut eine gehörige Strecke bergauf, wo ein Kirchtürmchen sichtbar war. Es tat nichts, daß die Kirche protestantisch war, doch war sie leider wieder verschlossen. Tatsache ist, daß in den protestant i schen Gotteshäusern deutlich weniger Ramsch herumliegt und somit zu klauen wäre, als in den katholischen. Zweimal fand ich da keinen Altar und einmal gar kein Kreuz. Das war nur in einem Glasfenster
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