Bis ans Ende der Welt (German Edition)
zungenbrecherische lokale Grußformel liegt bei der Polizei hoch im Kurs. Sie soll ja den verdächtigen Fremden entlarven. Aber andersrum freute mich auch, daß dies der erste Polizist seit Sankt Gallen war. Wenig Polizei, w e nige Verbrecher, lautet die Devise. Wo es aber zu wenig Verbrecher gibt, gibt sich das Gesetz freilich auch mit dem einfachen Bürger zufrieden. Das Problem ist, daß es so viele Ge- und Verbote gibt, das man wohl oder übel immer gegen eines davon verstoßen und rechtens belangt werden kann. Außerdem soll der Bürger nie seine Herren ganz aus dem Sinn verlieren. Nein, die Polizei konnte mir gestohlen bleiben. Ich entfernte mich rasch und motiviert, und sofort fand ich den Weg, die Natur wurde schöner, und ich gelangte problemlos zum Paß, vorbei an einem irrsinnig hohen Wasserfall, den man sonst bestenfalls irgendwo in Südamerika sehen kann. Anscheinend mußte ich nur ein wenig wachgerüttelt werden.
Der Tag neigte sich dem Ende zu. Ich schritt auf dem steinigen alten Pilgerpfad den Paß hoch, was zwar mühsam, aber auch sehr romantisch war. Und die So n ne schien plötzlich wieder. Ich konnte mich nicht einmal darüber ärgern, daß ich oben am Paß keine Übernachtungsmöglichkeit fand. Das Naturschutzhaus, das mich sehr gereizt hätte, hatte angeblich geschlossen, obwohl Leute fröhlich auf der Terrasse Bier tranken. Das reguläre Gasthaus konnte ich mir freilich nicht leisten. Ich war ja in der Schweiz, wo alles dreimal soviel kostete. Ich tröstete mich aber mit dem Wissen, das der Anstieg nun zu Ende war. Doch war er es nicht. Während die Autostraße nun ordentlich nach unten führte, zog sich der Pilgerpfad noch eine geschlagene Wegstunde steil in die Höhe durch einen mo r schen, verkrüppelten Wald. In einem anderem Leben würde ich hier gerne Rä u ber werden, da sich die Opfer am Scheitelpunkt angelangt garantiert nicht mehr wehren könnten. Die würden es gar nicht merken, wenn man ihnen das Port e monnaie aus dem Hosensack zöge. Ich zumindest nicht, so fertig war ich da. Und der Abstieg war fast noch schlimmer – rutschig, gefährlich, langsam. Lo s getretene Steine polterten laut den Hang hinunter. Als ich endlich im Tal aus dem Wald trat, war es klar, daß ich Brienz heute nicht mehr erreichen werde. Es war einfach zu viel des Guten für einen einzigen Tag. Der Tag war gut, aber di e se Etappe war nicht zu schaffen, egal was der Führer dazu meinte. Das sah der Herr dann auch so und stellte mir eine Scheune an den Wegrand, wo man im Stroh schlafen konnte. Sie gehörte zu einem Reitstall, den ich kurz zuvor pa s sierte. Das auf einer Tafel stehendes Übernachtungsangebot verschmähte ich da hoffnungsvoll. Nun konnte ich aber wirklich nicht mehr weiter. Ein Swimmin g pool und eine Waschmaschine gehörten zum Angebot, und ich hatte die Bude für mich ganz allein. Das zählte auch. Ich konnte, frisch geduscht und auf einer Bank vor dem Haus sitzend, in aller Ruhe die sonnige Abendstimmung geni e ßen, das Tagebuch schreiben, mit dem Herrn reden und in den Gedanken he r umkramen. Ich hatte noch eine alte Brotkante und eine Fischdose im Rucksack gefunden, zum Trinken war ein Wasserhahn da. Ich war nicht hungrig, nicht durstig. Nichts fehlte mir, die ganze Welt war mein.
Interlaken, km 650
Zum Bezahlen mußte ich am nächsten Morgen wieder ein Stück zurückgehen, was mir freilich sehr widerstrebte. Erstens wegen des Zahlens, zweitens, weil der Fluß nie zurückfließt, der Pilger nie umkehrt. Vieles unternimmt der Mensch, um ans Geld zu kommen, lügen, stehlen und morden, aber fast zwei Kilometer mit Rucksack auf Blasen zurückzulaufen, um Geld loszuwerden? Das wog schwer, und ich rechnete mir es hoch an, klopfte mir lobend auf die Schu l ter. Dafür bekam ich aber in einer urigen Gaststube über dem Stall ein gutes Frühstück mit allem, was man sich kulinarisch für den Vormittag nur denken kann. Säfte, Obst, Eier, Schinken, Würstchen, ganze Wagenräder Käse, frisc h gebackenes Weißbrot und guten Bohnenkaffee. Alles ganz frisch, adrett serviert und in großen Mengen. Ich schlemmte ausgiebig, unten im Stall schnauften Pferde, scharrten mit den Hufen, und alles war wieder gut. Sogar für die Jause am Mittag reichte es noch. Im vollem Sonnenschein zog ich davon, vorbei an einem Schlag, aus dem ein Fohlen beharrlich auszubrechen versuchte, indem es immer gewaltig mit den Hinterläufen gegen die Stalltür donnerte. Es klang j e desmal wie ein Kanonenschuß und begleitete mich
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