Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Freien verbringen mußten, waren voll mit kleinen roten Wanzenbissen. Ich konnte es nicht glauben. Ich reiste in alle möglichen, auch armen Länder, aber es war das erste Mal, daß ich von einer Wanze gebissen wurde. Dazu mußte ich in die Schweiz kommen.
Sankt Niklaus, km 588
Wanzen sind raffinierte Viecher. Nicht nur greifen sie an, wenn das Opfer weh r los im Schlaf liegt. Aber sie reisen auch gerne im Gepäck mit. Am nächsten Ort machen sie sich die Räumlichkeiten bald untertan. Mit Sauberkeit allein ist i h nen nicht beizukommen. Nur die Vergasung hilft. Vor allem in Holzböden, Holzdecken und Bettgestellen verkriechen sie sich in Ritzen und kommen nur in der Dunkelheit raus, wandern über Decken und lassen sich aus luftiger Höhe auf ihre Opfer fallen. Bei uns nennt man eine Wanderherberge volkstümlich oft als „Wanzenbude“, aber da ist nichts zu lachen. Es dauert Tage, bis man einen Wanzenbiß endgültig los wird, und viele reagieren auf Wanzenbisse allergisch mit häßlichen Schwellungen. Ein befreundeter Arzt erzählte mir, wie er in Gri e chenland drei Tage lang blind saß, so angeschwollen war sein Gesicht. Spät e stens in Spanien lernte ich, auch bei hohen Temperaturen nur im völlig g e schlossenen Schlafsack zu schlafen. Lieber heiß geschlafen als von Wanzen g e fressen.
Ich erzählte nichts dem Bauer und machte mich nach der Morgenwäsche im Kuhstall und dem sehr willkommenen Frühstück schleunigst auf den Weg. N a türlich regnete es wieder. Die Temperatur lag bestimmt unter zehn Grad. Bald verließ ich das Tal und stieg in die Flanke des neunzehnhundert Meter hohen Stanshorn ein. Der Berg konnte mich nicht schrecken, wie üblich sah ich ihn wegen der tiefhängenden Wolken nicht. Die Schweiz – ein Land ohne Berge. Die Aussicht betreffend, hätte ich genauso gut in einem Hochhaus die Treppe steigen können. Es ging auf und ab, aber es gab keine Berge zu sehen. Hier lag das Herz des Schweizer Bundes: Uri, Schwyz, Unterwalden. Die Gegend war recht religiös und katholisch obendrein. Es gab reichlich Kapellen unterwegs, meist aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Der Schweizer Nationalheilige, Niklaus von Flüe war hier als Bruder Klaus zu Hause. Er lebte im 15. Jahrhundert. Bis Fünfzig führte er ein wohlhabendes Leben, war Richter und Ratsherr, hatte mit seiner Frau gar zehn Kinder gezeugt. Dann wurde er Pilger und später Einsiedler in der Schlucht von Ranft. Zweitausend Jahre vor ihm tat Buddha ähnliches. Rechte Anschauung, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Denken, Versenkung im Gebet. Wenige handeln danach, doch einmal im Leben des Mannes kommt der Punkt, da er die Ve r gänglichkeit der Dinge erkennt und den Schmerz des Seins spürt. Heute würde man es vermutlich als Midlife crisis abtun.
Die einmalige, tiefe Schlucht, die von dem Flüßchen Melchaa gegraben wurde, sollte der touristische Höhepunkt des Tages sein. Der Führer leitete den N a men Ranft vom Rand, da sich die Leute hier angeblich am Rand der Welt glaubten. Demnach erwartete ich so etwas in der Größenordnung von Grand Canyon und machte mir Sorgen um die Kondition. Meine Motivation paßte heute ganz gut zum Abgrund. Aber die Kleinmut war in beiderlei Hinsicht u n begründet. Es war noch früh am Nachmittag und auch noch keine Klause in Sicht, da bog ich auf dem engen Waldpfad um die Ecke und sah völlig übe r rascht einen modernen Kirchbau vor mir stehen. Nachträglich betrachtet war es wohl eine der eindrucksvollen Kirchen, die ich auf dem Pilgerweg sah, und es müssen wohl viele gewesen sein, die ich unterwegs besuchte. Holz und Glas und Raum, imposante Einfachheit in Eindrucksfülle, greifbare meditative Stimmung. Ein Ort der Besinnung im wahren Sinne des Wortes. Die Kirche gehörte zu einem Heim der Dominikanerinnen, das verheißungsvoll „Haus B e thanien“ hieß. Sechs Tage vor dem Paschafest kam Jesus nach Betanien, wo Lazarus war, den er von den Toten auferweckt hatte. [20] Maria und Martha von Bethanien hatten einen Bruder, der Lazarus hieß. Das Johannesevangelium e r zählt von seiner Auferweckung, nachdem er bereits vier Tage im Grab gelegen hatte. Das Wort Lazarett kommt von Lazarus. Der Name aber bedeutet: „Gott hat geholfen.“ Richtig! Für jeden schlechten Tag schickt der Herr einen guten, nie prüft er uns über unsere Kraft hinaus. Ich wußte, ich bin gut eingetroffen, hier konnte ich ruhen und neue Kraft schöpfen. Mich sogar in der Badewanne
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