Bis ans Ende der Welt (German Edition)
stiegen rasch in den Peugeot und fuhren unangeschnallt ab. Darüber herrschte irgendwie Einverständnis.
Und so kam es, daß wir schon am Tagesanbruch auf dem düsteren Vorhof der romanischen Kirche in Payerne standen, uns umsahen und fragten, wie wir denn um Gottes Willen hierher gelangten, nachdem wir kaum vierzehn Stunden zuvor wie kleine Kinder in einem Volksmärchen verloren gewesen waren. Es dämme r te ein bleierner Morgen heran, ganz ohne Charme zog es modrig aus dunklen Ecken. Der braungraue, gedrungene Kirchbau kauerte über uns wie ein phant a stisches Fabeltier. Eine gute Kulisse wohl zu den schwarzverhüllten Klagewe i bern, pleureuses (Heuler) genannt, die in der Gegend am Karfreitag herumzi e hen. Alle Pforten waren geschlossen, nichts rührte sich, nichts zog zum Verwe i len an. So gingen wir ohne Reue und sprachen kein Wort, bis wir die Broye e r reichten. Dem Flüßchen folgten wir dann stundenlang, berückt und frei, ohne Autos, ohne Menschen, ohne Zivilisation. Der Weg war nun kaum zu verfehlen, immer geradeaus das Ufer entlang, wieder zurück auf den sicheren Camino. Wir zogen still dahin und verarbeiteten Erlebtes. Auch hatten wir Oxidationsrüc k stände von mehreren Flaschen Wein rauszuschwitzen.
In Moudon, einige Stunden später, wäre laut Führer die aktuelle Tagesetappe e i gentlich schon wieder zu Ende gewesen, doch machte Christoph keine solche Anzeichen. Statt dessen faselte er kryptisch etwas vom „entscheidenden Spiel“ und anderem Zeug. Er meinte das Fußballspiel zwischen Deutschland und der Türkei, und es war ihm offenbar ein bitterer Ernst. Mir fehlt halt alle Leide n schaft für den sportlichen Wettbewerb, so dauerte es ein Weilchen, bis ich b e griff. Der Plan war, unbedingt noch vor dem Anpfiff Lausanne zu erreichen. Dort am Seeufer könne man auf einer großen Leinwand das historische Ereignis verfolgen, protzte Christoph hoffnungsvoll. Unklar blieb, warum sich jemand Mühe und Kosten machen sollte, um eine solche Leinwand aufzustellen, und woher es Christoph wußte. Aber ich war grundsätzlich nicht dagegen. Diese vermaledeiten Türken, einfach hinterrücks das ganze zivilisierte Europa im Fu ß ball schlagen! Wer sollte sie denn noch aufhalten, wenn nicht die tüchtigen Deutschen? Zuschauen war da patriotische Pflicht – mindestens! Schlecht daran war, daß wir noch sieben Stunden zu gehen hatten, und die ganze Tagesetappe betrug dann fast fünfzig Kilometer. So viel auf einmal bin ich noch nie gelaufen. Fast fünfzig Kilometer waren eine Art Schallmauer für mein kaputtes Bein. Die Blasen hüpften vor Freude.
Um Mittag stach die Sonne heiß vom Himmel wie ein Feind auf uns nieder. Ein Gewitter im Aufzug? Die Kleidung klebte am Körper, der sauere Schweiß nach dem Trinkgelage fühlte sich schmierig an. Uns war unwohl, wir fühlten uns dreckig und geschafft. Die Stimmung war miserabel. Ich bestand darauf, in dem eiskalten Fluß nackt zu baden, während Christoph, störrisch wie ein Kind g e worden, sich in einen weit am Hang gelegenen Wald verzog und dort ganze zwei Stunden verschlief, bis ich ihn telefonisch aufspürte und weckte. Er war einfach sonst nicht mehr zu finden. Wenn ich schon am Telefonieren war, rief ich auch noch die Mutter an. Nicht gut, sie hatte Schmerzen, weinte am Telefon, die Arme. Was tut man da, wie tröstet man? Ich erzählte, wie schön es hier sei, in der berglosen Schweiz am Ufer der eiskalten Broye. Geht der Schmerz weg davon? Hilft ein Gebet? Ich sprach zum Herrn darüber. Er versprach nichts, hielt sich bedeckt: „Mal sehen. Ihr seid Legion! Immer wollt ihr was, seltsame, fre m de Dinge, jeder was anderes, widersprüchliches, nie seid ihr euch einig, nie seid ihr zufrieden! Was ist Schmerz, was ist Tod? Ihr seid sterblich, der Tod ist kurz, nur meine Herrlichkeit dauert, währt immer fort, ewig.“ Fremd.
Das Gewitter kam nicht. Wir überwanden die Schwäche und legten ernsthaft an Tempo zu. Lausanne, wir kommen! Die Religion wechselte wieder zu kath o lisch, die Leute grüßten nicht nur zurück, sondern freudig und zuerst. Nur Deutsch wollten sie nicht mehr verstehen, auch der Gruß hatte nun auf Franz ö sisch zu sein. Eine große Umstellung. Achthundert Kilometern kam man gut und schallend mit „Grüß Gott“ aus, nun sollte man einen frugalen „Bon Jour“ wü n schen? Aber nach ein paar Pfadfindergruppen, die uns begegneten und wie wir sehr grüßfreudig waren, kam es uns gar nicht mal so fremd vor. Freudig, sanft und melodisch
Weitere Kostenlose Bücher