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Bis ans Ende der Welt (German Edition)

Bis ans Ende der Welt (German Edition)

Titel: Bis ans Ende der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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r den, je weiter man kam und sich der Stadt Genf näherte. Die Karte zeigte dort lauter Straßen und Häuser. Die übliche Zersiedelung der Landschaft. Überall wird ja gebaut und betoniert, als ob das Land dehnbar wäre. Mehr, mehr, noch mehr, noch besser! Sonst hätte man keinen Platz, wohin man mit dem Auto fährt, mit dem Flugzeug fliegt. Man hätte nichts zu tun, säße zu Hause und sähe sein Elend und seine Armseeligkeit bis zum Tode. Jedenfalls sah es so aus, als ob die letzten dreißig Kilometer mehr oder weniger aus harten Gehsteigen b e standen. Und das war nicht gut. Also beschloß ich, nur solange zu marschieren, solange der Weg am Ufer durch die freie Natur führte, dann aber lieber das Schiff zu nehmen. Das Schiffahren war schließlich eine alte Pilgertradition – nicht nur erlaubt, ja sogar ausdrücklich empfohlen. Daran zweifelte ich keine Sekunde, ich hatte ja eine Schwäche dafür. Außerdem bin ich in praller Sonne, mit Rucksack und Bergschuhen auf hartem Beton weder mir selbst noch sonst jemanden ein guter Freund. Ich mag weder, daß mich besorgte Anwohner hinter dem Fenster ausspähen noch mir von der Gartenlaube mit Wein und Bier zupr o sten und „alles Gute“ wünschen. Ich mag nicht, von lärmenden, stinkenden A u tos und Mofas überholt zu werden, auf grüne Ampeln zu warten und Jugendl i chen auszuweichen, die es offenbar selbst nicht können. Ich mag keine grünen Minnas, kein Blaulicht, keine Sirenen, die es seit einigen Jahren überall auf den Straßen gibt. Nach einer Weile geht das Böse auf mich über, und der Herr ist dann nicht mehr mit mir. Auch deshalb war es sehr ratsam, das Schiff zu ne h men. Sollte es meinetwegen im Sturm untergehen, ich hätte keine Bange.
    In Genf wollte ich dann einen freien Tag einlegen. Den letzten hatte ich in Kempten – an die fünfhundert Kilometer zurück. Seitdem war ich jeden Tag fast dreißig Kilometer unterwegs. Eine kleine Pause täte mir sicher wohl. Schon w e gen der Blasen. Immer neue kamen dazu, vor allem, wenn der Weg schwieriger wurde. Als ich die neuen Bergschuhe kaufte, rechnete ich zwar damit, sie erst einlaufen zu müssen, aber nach Hunderten von Kilometern waren sie immer noch steif und unnachgiebig, weshalb der Fuß darin hin und her rutschte. B e stimmt stimmte etwas mit der Fußunterlage nicht. Am Übergang zwischen der Sohle und der Ferse bildeten sich tiefliegende Blasen, die sich nicht aufmachen ließen und bei jedem Tritt stechenden Druckschmerz verursachten. Und doch war ich im Vorteil. Nach dem Motorradunfall litt ich monatelang an großen Qualen, später entwickelte ich – vermutlich durch die Betäubungsspritzen für die Operationen – bestialische Rückenbeschwerden, gegen die überhaupt keine Schmerzmittel halfen. Der Rücken tat auch jetzt noch weh. Ich lernte jedenfalls, Schmerz geistig abzuschalten. Er war zwar da, aber er hatte keine große Bede u tung. Ebenso wie das ständige Naßschwitzen. Es war lästig und äußerst unang e nehm, aber es hinderte einen nicht am Gehen. Aber einen Tag Pause, ja, den hä t te ich gern. Leisten konnte ich mir ihn. Ich war schon zwei Tage dem Plan vo r aus, und hier würde ich einen weiteren Tag sparen. Also, nichts als nach Genf und faulenzen!
    Ich marschierte los, und es war eine gute Entscheidung. Schon einige Kilometer weiter traf ich kaum noch jemanden, auch in den Ortschaften nicht. Der Weg folgte dem Ufer durch Weiden und Laubgärten. Es gab uralte Kirchen mit nie d rigen Pforten, in denen man sich für eine Weile vor der stechenden Sonne ve r stecken konnte. Diese Bauten brachen die Zeit auf, machten sie wie einen tiefen, bewegten Raum sichtbar. Seit einer Ewigkeit siedelten hier Menschen. Schon im Römischen Reich und früher. Sie wurden geboren, lebten eine Weile, vergingen. Wozu? Damit sich die Natur beim Überlebenstraining nicht langweilt? Ein kle i nes Stück ging der Herr wieder mit und ließ allen Schmerz vergessen. Der See verlor seine Häme und wurde unter der Sonne schön und heiter. Ein Paradies auf Erden, so schien es. An den Anlegestellen kamen Menschen zusammen, mac h ten Mittagspause unter kurzgeschorenen Ahorn- und Akazienbäumen, die einen mageren Schatten gaben. Alles ging ruhig und sittlich zu - die Schweiz eben. An einem solchen Ort erstand ich Milch und Kuchen und machte Mittagspause. G u te, kühle Milch auf einer Bank vor dem See. Fett, Kohlehydrate, Proteine, Min e ralien, Vitamine, Flüssigkeit. Als Seelennahrung das Seepanorama. Ich saß ei n

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