Bis ans Ende der Welt (German Edition)
schon fühlte ich mich fast wie zu Hause, dann allerdings wieder wie ein Eindringling, weil alles so offen stand, und ich noch nicht wußte, was davon ich als Gast anfassen, mir nehmen dürfte. Ein Österreicher, der kurze Zeit später aus der Gegenrichtung kam, somit alles schon hinter sich hatte, gab sich gelassen. Es sei ganz einfach in Frankreich, nur reservieren müsse man für den Abend im voraus. Das machte mir vorläufig noch etwas Sorgen, denn ich hatte noch nie Gelegenheit, am Telefon Französisch zu sprechen. In einer fre m den Sprache zu telefonieren, ist immer schwieriger, da man das Gegenüber nicht sieht. Der Österreicher jedenfalls war locker und optimistisch, das gab mir Mut. Später kamen noch zwei nette Mädchen, und wir waren eine echt nette Gesel l schaft bei Tisch und Wein. Ich hielt mich ganz vornehm zurück, doch Wein und Gesellschaft hatte ich das letzte Mal in Einsiedeln, und es kam mir vor, als ob dazwischen ein ganzes Zeitalter gelegen hätte.
Chaumond, km 959
Von dieser Tagesetappe blieb mir seltsamerweise nur wenig im Gedächtnis. Der Führer spricht von zahlreichen interessanten Kreuzen und Kapellen, einem a b wechslungsreichen Weg. Ich erinnere mich an den gepflegten Dorfkern um das Gemeindeamt, das im Französisch klangvoll Mairie heißt, so ganz in der Frühe noch völlig menschenleer, wo ich eine Weile etwas verloren herumstand, als ob mir der Mut zum Weitergehen fehlte. Geschäfte gab es hier keine, zuletzt ein ganz kleines in dem Weiler La Forge gleich nach der Grenze, aber da war über Mittag geschlossen. Doch von dem gedeckten Frühstückstisch in der Herberge nahm ich etwas Brot mit, irgendwo im Rucksack schwammen noch ein paar Sardinen in Öl. Auch noch ein paar getrocknete Feigen waren drin. Das kleine Vorrat begleitete mich schon seit Interlaken. Ich sollte nicht verhungern, zumi n dest nicht an diesem Tage. Außerdem kann ich mich noch erinnern, daß der Weg steil auf und abging und mir recht mühsam vorkam. Der Gebirgskamm lag um die neunhundert Meter über dem Meer, den passierte ich bald, aber es folgte ein ziemlich zerklüftetes Gelände, und ich schlängelte mich hindurch in allen drei Dimensionen. Das Wetter besserte sich nun endgültig, und es herrschte eine große Hitze, der Boden war trocken und griffig. Sogar die Blasen waren am Verschwinden. Nicht die gemeinen, tief unter der Haut in der Ferse, die vera b schiedeten sich endgültig erst am Ende der Pilgerschaft oder gar danach, aber die flachen, großen, wunden und entzündeten. Plötzlich schienen sie doch au s heilen zu wollen. Ich konnte wieder den ganzen Tag Bergschuhe tragen, kraf t voll ausschreiten, sogar vor Übermut einen Stein treten. Das lieber mit Vorsicht. Aber es war trotzdem eine harte Etappe, die ich in fröhlicher Einsamkeit und ehrfürchtigem Staunen absolvierte. Ein seltsames Phänomen, das mich noch auf der ganzen Strecke durch Frankreich begleite, zeigte sich hier zum ersten Mal. Der tiefblaue Himmel schien an den Rändern seltsam zu glühen, als ob ein gr o ßer Lichtstrahl hinter dem Horizont leuchten würde. So wie das zarte Weißblau des bayerischen Himmels, so wie das Blaugrün am Himmel meines Heimatg e birges, das auch in der Schweiz an manchen Stellen zu sehen war, so wie das a b rundtiefe Intensivblau über den Schweizer Gletschern, jedes Land schien einen ganz eigenen Himmel über sich zu haben. Irgendwo mitten auf der Strecke dre h te ich mich zufällig um und konnte tatsächlich noch den mächtigen Jet d’au in der Ferne pulsieren sehen. Weiß stach er wie eine Eins von dem blauen, durch die Erdkrümmung gewölbten Hintergrund des großen Sees ab, winzig klein zwar, aber noch deutlich zu sehen, ein riesiger bunter Luftballon hing darüber. Genf winkte mir zum Abschied. Kurz vor Chaumond kam noch ganz gewaltiger Berg, mit dem ich nicht gerechnet habe, und der mir sehr zu schaffen machte. Fast eine Stunde saß ich nach der Ankunft dann niedergeschlagen herum, bis ich mich endlich imstande fühlte, zu duschen und die Kleider zu waschen.
Die Herberge in Chaumond ist allerdings eine recht rührige Angelegenheit. Im Führer zwar als Matratzenlager beschimpft, hängt sie wie ein Vogelnest über dem Ort, urromantisch, nur über enge, steile Stiegen erreichbar. Sie war völlig leer und keine andere Pilger kam an diesem Tag. Tee, Kaffee, Kakao, Milch und einige haltbare Lebensmittel gab es in der einfachen Küche. Ich trank gierig die ganze Milch aus dem Kühlschrank zu den letzten
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