Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Aussicht. Zuvor überholte ich zwei urige Engländer, deren Weg ich von oben verfolgen konnte, bis zu der Stelle, wo ich die falsche A b zweigung nahm. Sie wiederholten meinen Fehler nicht und blieben am richtigen Weg, o hne zu zögern, ohne überhaupt stehen zu bleiben. Es waren die einzigen Pilger, die ich an diesem Tag traf, und von der übrigen Menschheit sah ich auch nicht viel.
In Les C tes kam ich dann schon um fünfzehn Uhr an. Zu früh wohl, denn die Herberge war noch geschlossen. Von außen sah sie recht einfach, ja geradezu primitiv aus. Niemand meldete sich am Telefon. Und um die Sache noch besser zu machen, tobte sich hinter dem Haus ein großer Bulldozer aus. Offensichtlich war ich hier zu falscher Zeit an falschem Ort. Ich konsultierte den Führer. Die nächste Herberge befände sich etwa zwei Marschstunden weiter. Es waren an diesem Tag nur siebzehn Kilometer zu gehen, vielleicht kamen noch einige mehr dazu bei den Besorgungsgängen in Frangy . Eine Kleinigkeit, denn unter zwanzig Kilometer war eine Tagesetappe überhaupt keine Rede wert. Und erst jetzt setzte die Hitze ein, dank des Gewitters am Morgen. Es wäre noch zu schaffen gewesen. Noch unentschlossen saß ich auf der Haustreppe und hörte mir das wütende Schnaufen und Heulen des Bulldozers, der sich mit Wollust in einem großen, rotbraunen Loch verbiß. Wie ein Foxterrier im Fuchsbau. Es sah nicht danach aus, als ob er bald aufhören mochte. Also wollte ich mich trotz R e servierung doch lieber schleichen. Wenn keiner da war – eine gute Ausrede. Doch kaum war ich auf dem Weg, da läutete das Mobiltelefon. In einer Vierte l stunde werde sie da sein, versprach die Wirtin, sie sei nur einkaufen gefahren. Eine passende Antwort fiel mir so schnell auf Französisch nicht ein. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als umzudrehen und auf die Frau zu warten. Sie kam wie versprochen, sperrte auf, kassierte den geringen Obolus und ging wieder. Ich war allein im Haus, machte alle Fensterläden auf und schlug in einem kle i nen, staubigen Zimmer das Lager auf. Nach dem Duschen und Wäschewaschen inspizierte ich die Küche. Verwertbare Lebensmittel gab es hier keine. Ich hatte aber noch Wurst, Käse und Obst vom Einkauf in der Frühe und kochte zu allem Überfluß noch zwei Tütchen Suppe dazu. Es blieben noch ein paar Feigen und Tee zum Frühstück über. Ich war nun satt, warm und sauber und konnte in Ve r trauen auf den Herrn in die Zukunft blicken. Der gute Hirt, mein Beschützer. Aber ich mußte beim geschlossenen Fenster ins Bett gehen, weil der Bulldozer noch beim Nacheinbruch weiter lärmte. Dann, es mußten etwa zehn Uhr gew e sen sein, kam eine Gruppe fröhlicher Pfadfinder an. Zwei junge Pärchen. Sie duschten, wuschen, kochten und speisten fröhlich bis Mitternacht, und wenn sie sich Mühe gaben, mich nicht aus dem Schlaf zu reißen, so mit nur wenig Wi r kung. Auch ihnen, wie dem Bulldozerführer zuvor, war der Herr heute ein guter Wirt, und uns alle ganz zufrieden zu stellen, war an dem Abend nicht so leicht. Das sah ich ein. Aber die Tiere als solche hat er uns untertan, und die zwei Fli e gen im Zimmer hatten kein Recht, mich die ganze Nacht zu drangsalieren. Wenn sie nicht gerade auf meinen Hand- und Fußgelenken spazieren gingen, schlugen sie Kapriolen vor dem Fenster und summten im satten Baß ein fröhliches Lied. War ich denn ein Aas? Ich beschloß, in dieser Herberge das Handtuch zu kla u en, das ich den Tag zuvor in der letzten vergessen habe. Ohne Handtuch ging es halt nicht. Der nächstbeliebige Pilger, der sein Handtuch in Lausanne liegen ließ, wird meins mitnehmen und so fort, bis das Handtuch auf diese Weise eines fernen Tages Santiago erreichen wird.
Montagnin , km 1007
Mit etwas Gewissenbissen wegen des „geliehenen“ Handtuchs schlich ich mich um sieben Uhr aus dem Haus, wo alles noch still blieb. Die zwei Pärchen schli e fen selig, was verständlich war, denn sie sind spät ins Bett gegangen und haben zuvor mit Wein nicht gegeizt. Ich hoffte, sie weniger gestört zu haben, als sie mich am Abend zuvor. Auch mir kam sieben Uhr etwas zu früh, aber der Öste r reicher, den ich am ersten Abend hier in Frankreich traf, schwor darauf, daß man das Gros der Tagesleistung vormittags bringen muß, wegen der großen Hitze später am Tag. Und meine heutige Etappe sollte dreißig Kilometer betragen. Für mich, mein kaputtes Bein und meine Restblasen klang es nach großer Anstre n gung. Also lief ich bis Mittag über
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