Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Rotwein gutgehen. Ich erkannte nun meine Schwäche und riß mich zusammen. Naß und kalt war ich schon, also konnte ich einfach weite r gehen. Es war gerade noch eine Gehstunde bis zu dem Campingplatz, wo wir ursprünglich übernachten wollten. So legte ich munter los und ließ keine Sorgen wegen des Wetters mehr zu, bis ich ankam.
Ein so exzessiver Marsch hat sehr viel mit Geduld und Demut zu tun. Die richt i ge Einstellung macht den Pilger aus. Man geht und geht und geht, bis eines T a ges der Weg ein Ende hat. Beeilen wäre sinnlos, es gibt kein Wollen und kaum Ablenkung. Manchmal ist die Landschaft schön, manchmal weniger, manchmal ist gar nichts zu sehen. Das Wetter ist, wie es ist. Die Sonne scheint, der Regen fällt, der Wind bläst. Oder auch nicht. Man ist allein unterwegs. Es sei denn, man ist als Individuum mit einem anderen Individuum so sehr verzahnt, daß man zusammen allein sein kann. Auch wenn es hie und da einen geselligen B e gleiter gibt. Häufig wurde ich gefragt, warum ich allein unterwegs sei. Ich redete mich stets heraus, ein zweiter Verrückter sei nicht zu finden gewesen. Ein Scherz. Die Wahrheit ist, ich hatte niemanden, dem ich mein Gelübde hätte au f legen können - und dürfen. Ich schulde dir die Erfüllung meiner Gelübde, o Gott; ich will dir Dankopfer weihen. Denn du hast mein Leben dem Tod entri s sen, meine Füße bewahrt vor dem Fall. So gehe ich vor Gott meinen Weg im Licht der Lebenden . [27] Bei diesem Handel gibt es keinen Dritten. Ebenso kein Drängen und keine Eitelkeit. Es gibt keinen Verdienst zu erwerben, es sei denn vor dem Herrn, und der ist fraglich, weil vor dem Herrn alles zu kurz und zu wenig ist. Ich hatte keinen Anspruch auf besseres Wetter und andere angenehme Dinge, ich hatte nur den Weg zu gehen - wie gelobt. Nicht nur das Wetter, me i ne Einstellung war falsch. Also war ich in Unrecht vor dem Herrn. Ich war w ü tend und kleinmütig wie der zweijährige Junge, der ich einmal war, aber der war ich nicht mehr. Ich habe meine Schwäche bezwungen.
Der Campingempfang war von zwei hübschen, jungen Mädchen besetzt, im R e staurant feierte eine Seniorengruppe bei Kaffee, Kuchen und Ziehharmonika i r gendwas. Ab und zu ging einer von ihnen an die Tür und sog genüßlich die Luft ein. Echte Genießer mit garantiert trockener Unterhose. Ich trat ein und brauchte nur Sekunden, um die Rezeption in eine schlammige Pfütze zu verwandeln. Die Mädchen versuchten immer wieder aufzuwischen, vergeblich, ich versabberte sofort alles wieder. Zuerst war es mir peinlich, dann ergab ich mich dem Schic k saal. Ich war nun mal naß wie ein streunender Hund, doch schuld war nicht ich, sondern das Wetter. Aber die Mädchen machten mir keine Vorwürfe, ich glaube, sie mochten mich. Sie behandelten mich sehr aufmerksam und beobachteten mich, wenn ich nicht hinsah. Als Pilger bekam ich für lächerliche fünf Euro eine Hütte zugewiesen, die zwar bei näherem Hinsehen etwas herunterwirtschaftet war, doch den momentanen Bedürfnissen perfekt entsprach. Durch eine Gla s wand, die auf eine kleine Veranda führte, konnte ich die Natur draußen toben sehen. Ich hatte Mühe, die patschnassen Klamotten vom Körper zu ziehen, und ich mußte noch eine Weile warten, bis der Regen soweit nachließ, um in die Waschräume zu gelangen. Ich duschte mich warm, wusch alles und ließ es im offenen Heizungsraum trocknen. Die nassen Wanderschuhe behandelte ich z u vor mit dem Fön. Das schien mir sehr originell und besserte deutlich meine Laune. Dann rief Bill an und entschuldigte sich. Er war längst in der nächsten Stadt angekommen und ließ es sich in einem Hotel gutgehen. Eines der Mä d chen aus der Rezeption lief extra durch den Regen, um es mir auszurichten. Stark. Auf dem Camino regt man sich längst nicht über alles auf. Zum Teil ist man zu müde dazu, zum Teil hat man bald heraus, daß Pläne eben nur Pläne sind. Bill hat umdisponiert, immerhin rief er an, und ich holte mir anderthalb L i ter eiskalten Cola und einen Krimi an der Rezeption und leistete mir einen fa u len Nachmittag auf der Couch.
Lac de Paladru, km 1087
Am nächsten Tag gab es keine Spur mehr von einem Unwetter. Die Natur räu m te auf, nun war alles frisch, nett und harmlos. Gutgelaunt über den zu erwarte n den schönen Tag machte ich mich schon sehr früh auf den Weg und holte in Les Abrets Bill ein. Hier verläuft die Eisenbahnlinie Grenoble - Lyon, und es machte Freude, die eleganten TGV-Züge vorbeigleiten zu sehen.
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