Bis ans Ende der Welt (German Edition)
a ren so viele Menschen, daß es praktisch unmöglich war, zum Pipi , wie es die Franzosen nennen, auszutreten. Die Gegend war wenig bewachsen, alles nur Gras und Steine, dazwischen ein paar Büsche. Es erinnerte mich an die afrikan i sche Steppe, wo man in gleicher Lage wegen der Raubkatzen und anderem G e tier ständig sprung- und alarmbereit über die Schulter spähen mußte und sich dabei das eine oder andere Mal auch naß machte. Hier mußte man achtsam wie ein Fluglotse die Bewegungen der anderen verfolgen, wenn man das „kleine G e schäft“ nicht nur anfangen, sondern auch vollenden wollte. Die holde Weiblic h keit zog lieber weit in die Weide hinaus, wo es dann genügend Bodenlöcher gab, wo man jedoch nie vor den neugierigen Rindern sicher sein konnte. Diese hatten die Gewohnheit, das mit irdischen Dingen abgelenkte Opfer auszuspähen, es zu umzingeln und - einander anrempelnd und näher rückend - mit großen braunen Kulleraugen inbrünstig anzustarren. Wer könnte da noch? Auch hatte man zuvor den Hintergrund auf jeweilige ästhetische Qualität zu prüfen. Da man aus dem Loch nicht hinausschauen konnte, wußte man nie, wenn man sich erhob, um seine Kleider zu ordnen, ob in der Zwischenzeit nicht etwa eine neue Pilge r gruppe ankam, und just in diesem Augenblick das Fotomotiv entdeckend ihre Kameras mit Lichtgeschwindigkeit abfeuerte. Später zog sich das Feld ausei n ander, doch Vorsicht war angesagt. Wo immer man sich befand, was immer man tat, es konnte jede Sekunde wie aus dem Boden geschossen ein Pilger aufta u chen und freundlich grüßen.
Unmittelbar nach Le Puy gab es nun es etwa alle sieben Kilometer Übernac h tungsmöglichkeiten. So mußten Schwächere nicht darben und gleich am ersten Tag alle ihre Kräfte aufbrauchen. Das aber galt nicht für uns. Die Mädchen w a ren stark und motiviert, ich durch den einen freien Tag erstaunlich gut erholt. Diese Erfahrung machte ich jedesmal. Der Körper überwand an nur einem Ruh e tag alle Erschöpfung. Trägheit und Depression verschwanden wie verzaubert, Wunden heilten ab. Zu Mittag verbrachten wir, jeder auf seine Art faulenzend, gute zwei Stunden im Garten eines verlassenen Bauernhofes inmitten der wild wuchernden Wiesen. Das sollte für uns nun zu fester Tagesordnung werden. An den schönsten Plätzen hielten wir unser Mittagslager ab, lasen, schliefen, ließen uns von der Sonne bräunen oder was immer, als ob uns der Camino gar nichts anginge. Ich hatte eine glückliche Hand, solche Plätze zu finden. Manchmal l u den wir die eine oder andere sympathische Person ein mitzumachen, aber man lehnte stets ab. Die Pflicht rief. Wir aber wurden deshalb bald wie bunte Hunde bekannt, und mich verfolgte der Ruf, andauernd mit jungen Mädchen auf einer Wiese im Gras zu bummeln, bis über die Pyrenäen. Dann änderte sich das P u blikum und die hübschen Mädchen gingen mir aus. Aus sicherer Ferne sahen wir nun die ganze Meute, die wir zuvor überholten, an unserem Bauernhof vo r beigehen. Es war irgendwie tröstlich. Dann halfen wir noch zwei älteren slow a kischen Pilgern auf den Weg, die ohne Sprachkenntnisse keine Person und ke i nen Wegführer zu Rate ziehen konnten. Sie waren ziemlich erstaunt, jemanden gefunden zu haben, der sie verstand. So kamen wir erst relativ spät im Gîte von Saint-Privat-d’Allier an, wo man mit uns trotz Reservierung nicht mehr rechnete und andere an unser statt aufnahm. Wir kamen gerade noch unter, ich allerdings nur in einer staubigen, nicht sehr wohlriechenden Kammer mit allerlei Gerümpel darin. Für die Mädchen gab es noch zwei Betten im Gemeinschaftsschlafsaal auf dem Dachboden. Wir kochten alle zusammen Pasta, der Wirt, ein sympathischer Holländer, spendierte Öl, Gewürze und eine halbe Flasche billigen Landweins. Daß er Ausländer war, überraschte mich ein wenig, aber später stellte ich fest, daß immer mehr geschäftstüchtige Aussteiger aus Niederlanden, Großbritannien und anderen Ländern eine Herberge auf dem Camino eröffnen, mit den Einna h men das Haus, das sie sich vermutlich sonst nie leisten könnten, finanzieren und in ansprechender Gesellschaft den Sommer in Frankreich oder Spanien fast k o stenfrei verbringen. Das funktionierte offenbar auch dann, wenn man wie hier keinen Festpreis, sondern nur eine Spende verlangte.
Während des Abendessens entbrannte ein heftiges Streitgespräch zwischen den Mädchen und einem kirchenkritischen Pilger. Die katholische Kirche würde das Wasser predigen, selbst
Weitere Kostenlose Bücher