Bis ans Ende der Welt (German Edition)
entfernt zu sein. Ein Sprung nur, man wäre oben und käme nicht zurück. Wir hielten an Kirchen, Kapellen und Kreuzen und sprachen zum Herrn. Wir hielten an Zäunen und redeten mit den Kälbchen. Die aber fürchteten sich vor Sissis Stock, was sie nicht zu bemerken schien. Die Bullen flossen ihr aber Respekt ein.
Ein Aubrac-Bulle ist so ziemlich das imposanteste Rindvieh, daß ich in meinem Leben gesehen habe. Damit meine ich nur Tiere. Ich sah Pilger beim Anblick dieses Geschöpfes mit offenem Mund stehenbleiben oder in Begeisterungsrufe ausbrechen. Vom Wuchs her, ist der Bulle eher gedrungen, doch unglaublich muskulös und vital. Nur gut, daß sie sich für Menschen nicht zu interessieren scheinen. Meist sah ich sie irgendwo im Hindergrund stehen und den Schwanz schwingen wie ein Husar den Säbel. Ich mag Rinder generell nicht, aber das Aubrac-Rind doch. Sein Fell ist glänzend honiggelb, seine Augen ausdrucksvoll und intelligent, sein Maul zart. Am schönsten aber sind die Kälbchen. Von allen Rindern, denen ich unterwegs begegnete, gefiel mir diese Rasse am besten. Vie l leicht lag es daran, daß die Tiere den ganzen Sommer frei auf der Weide leben. Sie werden am 23. Mai, dem Tag der Transhumance und meinem Namenstag, auf die Weide getrieben, wo sie bis zum 13. Oktober bleiben. Das Gebirge des Aubrac ist um die tausend Meter hoch und liegt zwischen den Flußtälern des Truyère und des Lot. Es ist bekannt für sein rauhes Wetter. Im Winter liegt hier der Schnee metertief. Dennoch konnte ich in den Pilgerregistern Eintragungen auch vom Januar und Februar finden.
Das Tal der Truyère passierten wir schon am Vormittag. Obwohl nur zu Fuß u n terwegs, flogen die unterschiedlichsten geographischen und politischen Form a tionen rasend schnell vorbei. Zumindest schien es mir so. Irgendwo ganz, ganz weit zurück lag auch der erste Schritt, der erste Tag. Die Tage vergingen, mit ihnen schmolzen die Entfernungen. Berge, Täler, Flüsse, Seen, Landschaften, Länder, Wetterfronten. Ich war froh, nicht erst irgendwo in Spanien den Camino begangen zu haben. Da wäre längst alles vorbei gewesen, bevor ich überhaupt begriff, was passierte. Doch werde ich es überhaupt je können? Während ich in der Siesta halb versunken im samtweichen Moos eines verwunschen Waldes lag, wo alles ins geheimnisvolle grüne Licht getaucht war, dachte ich freudig an die vielen Kilometer, die unendlichen Wege noch vor mir. Es war um so angene h mer, da wir satt waren, in bestem Einvernehmen dahin dösten und keinerlei Not litten. Ganze Haufen Pilger zogen inzwischen an uns vorbei. Manche verdro s sen, manche fidel. Darunter auch die Nepal-Amerikaner, François aus Quebec und viele andere, die wir schon kannten. Plötzlich tauchte auch Joanna auf. Sie hinkte etwas, das Knie machte ihr Probleme. Klar, ihr Rucksack war entschieden zu schwer. Aber sie war sehr tapfer. Nun genoß sie mit uns die lange Siesta. El i sabeth raffte sich endlich auf und suchte telefonisch, eine Übernachtung für uns zu organisieren. Diesmal ganz ohne Erfolg.
Als wir dann schließlich um sechs Uhr in Aumont-Aubrac eintrafen, wurde da gerade die Messe angeläutet. So sind wir gleich, wie wir waren, verstaubt und verschwitzt, in die Kirche. Für Elisabeth und mich war das eine willkommene Selbstverständlichkeit. Auch der Herr ging mit. Nichts sei dem Gottesdienst vorzuziehen, schrieb der heilige Benedikt, und ich freute mich, daß ich tatsäc h lich nichts zum Vorziehen hätte, und daß es Elisabeth auch so empfand. Eine Gruppe junger Pfadfindermädchen in blauen Uniformen und Baretts sang wie ein Engelschor, und die Kirche aus dem 12. Jahrhundert schien die richtige K u lisse für den gregorianischen Gesang zu sein. Die Seele war übervoll, und Sissis braune Augen glänzten wie Sterne, wenn sie mich ansah. Es war eine der schö n sten Messen meiner Pilgerschaft. Erst später erfuhr ich, daß sie völlig improv i siert war. Abgehalten wurde sie von einem Priester, der mit seinen zwei Neffen für eine Woche auf dem Camino unterwegs war. So waren es auch die Pfadfi n derinnen, und die Gemeinde bestand aus Pilgern oder zufällig vom Glockeng e läut angelockten Einheimischen. Nebenbei, zum Brudergruß gibt man den He r ren in Frankreich wie bei uns die Hand, aber die Frauen küßt man auf beide Wangen.
Und der Herr öffnete seine Hand und der örtliche Pfarrer sein Versammlung s haus, und wir alle kamen dort für diese Nacht gratis unter, wenn auch nur im Schlafsack auf dem
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