Bis ans Ende der Welt
einen Tipp für Ralf: »Frag den Typen mal, ob er einen Job für dich hat. Oft sind irgendwelche Arbeiten zu erledigen. So kannst du dir die Kosten für die Übernachtung sparen und kriegst vielleicht was draufgelegt.«
Und tatsächlich - es gab einen Job: Klo putzen.
Traumurlaub in Australien ging eigentlich anders, aber seine Finanzkrise ließ keine Wahl.
Nach dem Job und einer Dusche fand er Miriam von einem Typen belagert, der erzählte, was er einmal studieren wollte, aber es selbst nicht genau zu wissen schien.
Miriam stellte ihn vor: »Ralf, das ist Helge aus Wiesbaden.«
»Hallo.«
Sie gaben sich die Hand. Helge bedauerte, in einem anderen Zimmer untergebracht zu sein. Ob sie nachher nicht noch einmal rüberkommen wollten?
Okay, würden sie.
»Ist der nicht ein bisschen komisch?«, fragte Ralf, nachdem dieser Helge abgezogen war. Er packte Boxershorts und ein T-Shirt aus seinem Rucksack und legte sie als Schlafanzug auf das Stockbett.
»Anstrengend, aber sonst in Ordnung, glaube ich.«
Ralf breitete seinen Schlafsack auf dem oberen Bett aus. Miriams Augen waren immer noch leicht verquollen.
»Du magst David noch sehr, oder?«
»Aber er mich offenbar nicht.«
»Das würde ich nicht gleich denken. Er war doch sehr freundlich.«
»Ach Ralfi«, schniefte sie, »du verstehst gar nichts. Wenn du deine Freundin besuchst und sie ist bloß höflich, was bedeutet das?«
»Hm. Aber er wollte, dass wir bleiben.«
»Nicht wirklich. Er konnte uns schlecht vor die Tür setzen, aber er hat gesagt, dass er noch Besuch bekommt.«
»Ja und?«
»Er hat nicht gesagt, wer zu Besuch kommt. Also ist es wahrscheinlich eine Frau. Und er hat nicht gesagt, was er so Dringendes zu tun hatte die letzten Tage, dass er nicht mal zurückrufen konnte, und warum er nicht mit mir in den Urlaub will. Also?«
»Also?«
»Also will er nichts mehr von mir wissen, weil er eine neue Freundin hat, das ist doch ganz klar. Sydney ist voller gut aussehender Frauen, ich kann’s ihm nicht verübeln. Oh Mann: Carol hat einen neuen Freund, David eine neue Freundin und beide wollen nichts mehr mit mir zu tun haben. Toll ist das.«
»Aber ich bin noch da.«
»Ja«, sagte sie und schluchzte, »du bist lieb.«
Ralf spürte Wärme in sich aufsteigen und bemerkte wieder, wie sein Herz schneller ging. Miriam würde David vergessen und sich vielleicht wieder verlieben... Moment - was dachte er da? Wenn sie sich in ihn verlieben würde, dafür könnte er nichts, aber er würde Kristine nie... was anderes wäre es, wenn er Miriam vor Kristine kennen gelernt hätte. Dann könnten sie bei Sonnenuntergang an einem tropischen Strand spazieren gehen - nur mal so als Vorstellung -, Hand in Hand, wie über die Brücke heute. Sie würde sich an ihn schmiegen wie vorhin, als sie weinen musste, und wenn die Sonne glutrot im Meer versank, würden sie sich unter eine Kokospalme setzen und sich tief in die Augen sehen. Ralf würde sich ein wenig hinabbeugen, denn Miriam war ziemlich klein, und aufpassen, dass er nicht an ihre Nase stieß, denn die war ziemlich groß, aber das machte nichts. Er würde sie küssen, sehr langsam, sehr zärtlich, sie würden sich ausziehen und in den warmen Fluten miteinander plantschen wie junge Schnabeltiere. Wenn sie wieder herauskämen, würden sie sich an den Strand legen, nackt, wie Gott sie erschuf...
»Träumst du von Kristine?«
Miriam hatte sich die Nase geputzt und die verquollenen Augen getrocknet.
»Ich - ja«, antwortete Ralf, »wie kommst du darauf?«
»Du hattest so einen Blick. Komm, lass uns zu Helge rüberschauen, wir haben’s versprochen.«
Helge lag auf seinem Bett und notierte etwas in ein schwarzes Büchlein.
»Schreibst du Tagebuch?«, wollte Miriam wissen.
»Nein, Gedichte.«
»Um was geht’s?«
»Hm, ich weiß nicht...«
Ralf sah Miriam an: Wenn Helge nicht gewollt hätte, dass sie was darüber erfahren, hätte er es auch bei Tagebuch belassen können, oder?
Aber Miriam war gleich ungeheuer neugierig. »Jetzt sag schon. Von was handelt dein Gedicht?«
»Von einer Meerjungfrau. Sie ist blond, ein bisschen punkig, vielleicht mit so Angelhaken durch die Augenbrauen, und lebt unter Wasser. Nur in der Dämmerung wagt sie sich auf die Felsklippen und singt.«
»Warum?«
»Weil sie einsam ist.«
»Nein, ich meine, warum nur in der Dämmerung?«
»Sie hat Angst vor den Menschen.«
»Klingt schön. Los, lies vor.«
Ralf verstand nicht, warum Miriam dieses Gedicht unbedingt hören wollte.
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