Bis ans Ende der Welt
über Miriam - bis er sicher war, ihren Mund nicht zu verfehlen - und gab ihr einen Kuss. Die Nase störte kein bisschen. Er spürte, wie sie die Lippen öffnete und ihre Zunge sich zaghaft nach vorne wagte. Nun - das war eine Art von Kuss, den Kristine... Mit einem Mal fiel es ihm schwer, an sie zu denken, denn das hier war schön, wunderschön. Ralf schien es, als ob er langsam zu einer Flüssigkeit wurde. Plötzlich löste sich Miriam von ihm, ein kurzes Lächeln, kaum zu erkennen, und sie flüsterte: »Gute Nacht«.
Was jetzt? Nach kurzem Zögern sagte er auch Gute Nacht und mit etwas wackligen Beinen kletterte er wieder nach oben.
Schlafen konnte er nicht, seine Gefühle tobten. Wie konnte das passieren? Es war nicht nur ein Gutenachtkuss, er hatte sein Herz pochen gespürt, laut und wild. Und warum hatte Miriam den Kuss abgebrochen - war was nicht in Ordnung damit? Oder hatte sie nur ausprobiert, ob sie ihn rumkriegt?
Ralf horchte auf ihren Atem: ruhig und gleichmäßig. Einfach eingeschlafen - das war nicht fair. Mit dem Kissen auf dem Kopf versuchte er, an Kristine zu denken. Wäre sie bloß nicht an dieses gottverlassene andere Ende der Welt geflogen.
10.
Wieder hatte es bis in die Morgenstunden gedauert, bis Ralf eingeschlafen war. Das Aufwachen war hart: Miriam und dieser Meerjungfrauen-Dichter rüttelten an seinem Bett, sie quatschten laut, ausgeschlafen und energiegeladen, Reisefieber hatte sie gepackt. Torkelnd begann sich Ralf anzuziehen. Wenn sie ihn ansah, hatte Miriam einen so unbeteiligten Blick, dass er sich fragte, ob er den Kuss nur geträumt hatte. Doch obwohl das vieles leichter gemacht hätte: Dieser Kuss, der ein Fragezeichen in seinen Hirnwindungen hinterlassen hatte, war passiert.
Im Bus schlief Ralf weiter. Er hatte keine Ahnung, wohin sie fuhren und warum, war auch egal. Nur schlafen, am liebsten eine ganze Woche.
Als er erwachte, war es Mittag. Miriam sagte kurz »Hi« und las weiter in ihrem Horoskopbuch. Ralf sah sich nach Helge um, er entdeckte ihn drei Reihen weiter hinten, wie er auf ein blondes, sommersprossiges Mädchen einredete.
Miriam klärte ihn auf: »Sie heißt Hilda, ist 18 und aus Holland. Er textet sie mit Karrieremöglichkeiten zu - ›soll ich Architektur studieren‹ und so.« Sie sah aus dem Fenster und fragte: »Sag mal, was ist eigentlich so besonders an blonden Mädchen, dass ihr alle den Verstand verliert, sobald eins in der Nähe ist?«
»Weiß ich nicht. Mein Verstand ist noch da.«
»Ach. Kristine ist zufällig auch blond.«
»Das ist was anderes.«
»So, und was ist anders?«
Was in aller Welt wollte Miriam darauf hören - Kristine war nun mal Kristine.
»Dass ich sie liebe, das ist anders. Diese Hilda dahinten ist mir egal. Könnte von mir aus eine Glatze haben.«
Vielleicht war das gar nicht die ganze Wahrheit: Klar, er liebte Kristine nicht wegen ihres Aussehens, aber dass sie groß war und blond wie der Weizen auf dem Feld, spielte möglicherweise doch eine Rolle...
»Hast du eigentlich keinen Hunger?«, fragte Miriam.
»Doch, jetzt wo du’s sagst.«
»In der Tüte sind Brot, ein Messer und Vegemite .«
Vegemite . Ralf überlegte sich das mit dem Hunger. Schließlich beschloss er, einfach nicht hinzuschmecken, und würgte zwei Brote hinunter, nachgespült mit warmem, völlig stillem Mineralwasser aus einer Plastikflasche. Kohlensäure war in Australien offenbar verboten.
Miriam sah ihm eine Zeit lang zu, seufzte schließlich und las in ihrem Buch.
»Immer noch astrogläubig?«, fragte Ralf.
»Da geht’s nicht nur um Zukunft, da ist viel Partnerpsychologie drin. Männer und Frauen sollen sich besser verstehen.«
»Mit Psychokram kann ich nicht viel anfangen.«
»Das ist doch wahnsinnig interessant. Bist du ein Hunde- oder ein Katzentyp?«
»Keine Ahnung.«
»Hättest du lieber einen Hund oder eine Katze als Haustier?«
»Weiß ich nicht. Lieber gar kein Haustier.«
»Na gut. Wenn du die Wahl hättest: Würdest du lieber als Hund oder als Katze wiedergeboren werden?«
»Ich glaub nicht an Wiedergeburt.«
»Ralfi, bitte.«
»Okay, lieber als Hund.«
»Dachte ich mir: Du bist eher ein Hundetyp. Hundetypen sind sozial, treu und bereit, sich unterzuordnen. Außerhalb ihrer Gruppe werden sie allerdings unsicher.«
»Und Katzentypen?«
»Katzentypen sind weltoffen und tolerant. Sie verbellen nicht gleich alles, was ihnen fremd ist. Sie sind selbstständiger und selbstbewusster.«
»Ich nehme an, du bist eher ein
Weitere Kostenlose Bücher