Bis ans Ende der Welt
Meerjungfrauen - oh Mann, das fehlte noch, warum nicht gleich Elfen oder Einhörner?
»Gut«, sagte Helge, »aber es ist noch nicht fertig.« Er setzte sich auf und machte ein feierliches Gesicht. Dann las er:
»Sie schwimmt pfeilschnell wie ein Delfin
Gebieterin der Fische Schwärme
des Meeres stolze Königin
doch sehnt sie sich nach Herzenswärme.«
»Stolze Königin«, raunte Ralf Miriam zu, »klingt wie aus dem Goldenen Blatt .« Aber sie zischte nur ein »Still!«, denn Helge machte sich an die zweite Strophe:
»Sobald der Tag sich schlafen legt
stimmt sie ein Lied an für die Nacht.
Durch ihre Melodie erregt
eine Junge lauscht der Töne Pracht.«
Miriam spendete Applaus, Ralf klatschte pflichtgemäß in die Hände.
»Wie geht’s weiter?«, wollte sie wissen. »Werden Jüngling und Meerjungfrau ein Paar?«
Helge schüttelte den Kopf. »Nein, sie sind aus verschiedenen Welten. Ihre Liebe ist ohne Hoffnung.«
»Dann wäre sie ja auch keine Meerjungfrau mehr, nur noch Meerfrau«, gab Ralf zu bedenken.
Das brachte ihm einen tadelnden Blick von Miriam ein. Okay, er fragte besser nicht, wozu dieses Gedicht überhaupt gut sein sollte, weil es sicher keine vernünftige Antwort darauf gab.
Als Helge mitkriegte, dass Miriam und Ralf am nächsten Tag früh aufbrechen wollten, erklärte er, er werde mitkommen, wenn sie nichts dagegen hätten. Miriam hatte nichts dagegen, also war die Sache klar.
Auf dem Weg zum Schlafraum fragte Ralf: »Weswegen willst du ihn unbedingt mitnehmen? So toll war das Gedicht nicht.«
Miriam zuckte mit den Achseln. »Was hat dir nicht gefallen?«
»Meerjungfrau - oh Gott. Was isst so eine Meerjungfrau überhaupt? Seetang? Fische? Dann muss sie ganz schön Mundgeruch haben. Statt ›Gebieterin der Fische Schwärme‹ hätte es ›Vertilgerin der Fischgedärme‹ heißen sollen.
Miriam lachte. »Vielleicht kommt sie aus Japan, da essen sie Sushi, rohen Fisch. Und eine bestimmte Sorte Seetang essen sie auch. Ich hab noch nie gehört, dass Japaner Mundgeruch haben.«
Ralf legte den Kopf schief, sie lachte wieder.
»Na schön, toll war es nicht. Hast du schon mal ein besseres Gedicht geschrieben?«
»Ich schreib keine Gedichte.«
»Nie irgendwas gereimt? Dann kannst du auch nicht mitreden.«
»Ich hab mal einen Abzählreim gemacht, als Kind.«
Sie kicherte. »Einen Abzählreim? Lass hören.«
»Du darfst aber nicht lachen.«
Sie waren beim Stockbett angekommen. Licht brauchten sie nicht, durch ein Fenster fiel der Schein der Straßenlaterne. Ralf kletterte nach oben, Miriam legte sich unten hin.
»Habe ich bei Helges Gedicht gelacht?«
Das stimmte. Sie hatte nicht gelacht, obwohl Helges Gedicht ziemlich lächerlich war.
»Also gut, pass auf:
Den Sekt der Sekte schleckte
der Sektenguru aus,
der Erweckte bald verreckte
und du bist raus. «
Sie lachte.
»He, das ist nicht schlecht. Wie alt warst du da?«
»Ungefähr zwölf.«
»Du hättest dein Talent nutzen sollen. Warum hast du Kristine kein Gedicht gemacht?«
»Warum hätte ich sollen?«
»Ein Liebesgedicht. Du liebst sie doch, oder?« Ihre Stimme klang rau, wie bei einer Erkältung.
»Na ja - klar. Aber sie findet Gedichte bestimmt altmodisch.«
»Du meinst, du findest Gedichte altmodisch.«
»Von mir aus. Im Übrigen hab ich ja nichts gegen Helge. Meinetwegen kann er mitkommen. Aber du musst mir was versprechen.«
»Was?«
»Dass er nicht dabei ist, wenn ich den Diener-Tag einlösen muss.«
Sie überlegte kurz: »Versprochen.«
Ralf war erleichtert, so konnte er schon besser schlafen. Mit ein bisschen Glück würde Helge bei ihnen bleiben, bis sie Kristine finden würden. Und Miriam konnte unmöglich den Diener-Tag einfordern, wenn Kristine dabei war. Mit dieser beruhigenden Aussicht drückte sich Ralf ins Kissen, er war müde, die Nacht im Bus war nicht sonderlich bequem gewesen.
»Gute Nacht, Miriam«, sagte er und gähnte.
Sie schien noch nicht müde zu sein. »Kannst du überhaupt schlafen so hoch droben? Kriegst du nicht wieder Höhenangst?«
»Nein.«
Sie kicherte. »Gibst du mir einen Gutenachtkuss?«
Plötzlich war Ralf wieder wach.
»Na gut, wenn du sonst nicht einschlafen kannst.«
Als er - nicht zu schnell - vom Bett hinunterstieg, sah er im Halbdunkel, wie ihm Miriam ihre Hand entgegenstreckte - zum Handkuss.
»Da, bitte.«
»Was? Einen Gutenachtkuss gibt man nicht auf die Hand.«
»Bei mir schon.«
Ralf setzte sich auf das Bett, schob die Hand beiseite, beugte sich langsam
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