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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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nicht lange aufblieb, Alkohol mied und keinen Kontakt zu ihren flegelhaften Musikfreunden unterhielt. Ihre Arbeit im Trocadero müsse sie selbstverständlich aufgeben. Alles, was sie brauchte, war Ruhe, Frieden, Abgeschiedenheit und reichlich Essen.
    Über ihre Arbeit im Tanzsaal brauchte sich Pearl keine weiteren Gedanken zu machen. Als sie nach den drei Tagen, die sie dort zur Beobachtung verbracht hatte, wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte Lionel Bogwald sie bereits durch eine andere Saxofonistin aus Melbourne ersetzt.
    Sie war noch immer erschöpft und niedergeschlagen, als ihre Eltern sie abholten und sie zu dritt im Taxi nach Hause fuhren. Nach dem Mittagessen brachte ein Botenjunge eine große braune Flasche Chininsulfat aus einer Apotheke in der Darlinghurst Road. Das weiße Kristallpulver sollte in Portwein aufgelöst eingenommen werden. Gegen zwei Uhr nachmittags unterbrach Aubrey seine Arbeit an der Präparation eines silberhaarigen Terriers, wusch sich gründlich die Hände und begleitete seine Tochter zu ihrer ersten Sitzung ins Reception House. Der Weg die Victoria Street entlang bis nach Darlinghurst hinein dauerte etwa eine Viertelstunde. Pearl ging die ganze Zeit bei ihrem Vater untergehakt. Sie bildete sich ein, dass viele der Passanten stehen blieben und ihretwegen die Köpfe zusammensteckten und flüsterten und einige andere mit den Fingern auf sie zeigten. Die Gesichter von Nachbarn schienen hinter den Vorhängen an den Fenstern aufzutauchen, und es kam ihr so vor, als würde sie von allen Seiten beobachtet, als könne sie das unterdrückte Gelächter und das hämische Zungenschnalzen hören: »Die verrückte Pearl Willis. Die verrückte Pearl Willis.« Und als ihr eine schimmlige Orange in der Macleay Street vor die Füße rollte, war sie sich sicher, dass sie jemand nach ihr geworfen hatte.
    Das Wartezimmer im Reception House wirkte bedrückend, die Wände waren fleckig vom Tabakrauch. Der Anstaltsleiter Hector Best trat ein. Er trug einen weißen Labormantel über seinem dunklen Anzug und blickte reichlich verlegen zu Pearl. Sie sahen sich kaum in die Augen.
    Aubrey erhob sich, doch der Arzt bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. »Nur die junge Frau. Wir sind in einer Stunde fertig.«
    Pearl folgte dem wehenden weißen Mantel durch einen langen Gang in ein kleines Zimmer mit ungewaschenen Fensterscheiben. Der Mediziner zog die Vorhänge zu und drückte ihr einen Bademantel in die Hand. Sein Gesicht wurde rot, als er sie mit abgewendetem Blick aufforderte, sich auszuziehen. Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, knöpfte Pearl ihr Kleid auf und schlüpfte aus den Schuhen und schob alle Gedanken an die nun bevorstehende Behandlungsmethode beiseite. Gleich darauf trat eine Krankenschwester ein und führte sie in einen anstoßenden Raum, wo sich in einer Ecke ein schmales holzverkleidetes Kabinett befand. Es war knapp zwei Meter lang und etwa einen Meter breit. Auf den ersten Blick wirkte es auf Pearl wie ein hochkant gestellter Sarg.
    Die Schwester öffnete die Tür zu diesem Kabinett, aus dem sofort dichte Dampfwolken herausquollen. Sie nahm der Patientin den Bademantel ab, die sodann das Kabinett betrat und sich gemäß ihrer Anweisung auf einen winzigen Hocker setzte. Dann wurde die Tür geschlossen, ein Riegel rastete ein, und Pearl kam sich vor wie lebendig begraben.
    Von nun an wurde sie jeden Tag in das Dampfkabinett eingeschlossen, anschließend wurde sie mit kaltem Wasser übergossen, außerdem gab es feuchte Umschläge, Duschen und aus Kräuterauszug bestehende Klistiere. Es kam ihr so vor, als hätten es die Ärzte darauf angelegt, ihr innerstes Wesen einfach fortzuspülen.
    Seit Pearl ihre Arbeit im Trocadero verloren hatte, wurde sie zunehmend teilnahmslos und gelangweilt. Ihr Leben war reduziert auf ihre zänkischen Eltern, ihre taube Großmutter, das Radio, ihre tägliche Behandlung im Krankenhaus und das Warten auf den Briefträger. Der absolute Tiefpunkt war erreicht, als Clara ihr Saxofon zu Palings zurückbrachte, um dadurch die Schuldenlast, die ihre Eltern bedrückte, ein wenig zu mindern. Es ging dabei nicht nur um die Rückzahlung des restlichen Bankkredits, den sie für die Anschaffung des Instruments aufgenommen hatten, sondern auch um die steigenden Rechnungen für das Telefon, das sich für Pearl allerdings einen Monat zuvor als lebensrettend erwiesen hatte. Als das Saxofon in seinen Instrumentenkasten gebettet aus dem Haus getragen wurde, fühlte sich Pearl

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