Bis ans Ende des Horizonts
der anderen Seite der Straße am Strand die Wellen überschlugen. Die Musiker saßen am einen Ende des Dachgartenrestaurants auf einem Podium in einem von Kletterpflanzen umrankten Pavillon und stimmten ihre Instrumente.
Ihre Eltern hatten sie aufgefordert, noch eine Freundin einzuladen, und Pearl hatte deswegen Nora Barnes schriftlich eingeladen, ein Wochenende in Sydney zu verbringen, die aber leider absagen musste: Ihre Schwangerschaft war inzwischen weit fortgeschritten, und sie wollte lieber nicht alleine fahren. Jedoch hatte sie als Geschenk ein Bündel besonders langer Pfauenfedern von Pookies schönsten Tieren geschickt.
Daher saß Pearl nun allein mit ihren Eltern am Tisch und nippte still an ihrem Tee, während die Band endlich einsetzte und etliche Paare auf die Tanzfläche eilten. Über die ganze Terrasse des Dachgartenrestaurants waren massive Tontöpfe verteilt, aus denen allerlei hochragende Farne und Pflanzen wuchsen, auf den seitlichen Brüstungen standen Blumenkästen mit üppig blühenden Geranien. Die Tische waren mit schwerem Leinentuch gedeckt, das mit Spitzensäumen verziert war. Die Einladung hierher war von Clara und Aubrey als nette und durchaus einfühlsame Geste gedacht, und trotzdem musste Pearl die ganze Zeit an ihren Geburtstag im Jahr zuvor denken, als James dabei war und sie ihr neues Saxofon auspackte. Damals schienen all ihre Träume zum Greifen nahe.
Sie biss ein kleines Stückchen von ihrem Sandwich ab, und die Band spielte ihr erstes Lied. Es war inzwischen mehrere Monate her, seit sie selbst zuletzt ein Instrument in der Hand gehalten und darauf gespielt hatte, doch sie erkannte auch so recht schnell, dass diese Tanzkapelle alles andere als gut war. Der Posaunenton klang kläglich und dünn, die Trompete war verstimmt, und während des Refrains wurde das Tempo schneller. Sie legte ihr angeknabbertes Sandwich auf den Teller, stand auf und schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch Richtung Damentoilette. Als sie sie gefunden hatte, schnorrte sie noch von einer der Kellnerinnen eine Zigarette, ging dann hinein und rauchte sie auf einem der Hockerchen am Waschtisch sitzend und betrachtete ihr Spiegelbild.
Nachdem sie ein paar Strähnen wieder in ihre Haartolle gesteckt hatte, ging sie zurück nach draußen auf die Terrasse. Auf dem Weg zu ihrem Tisch ließ sie den Blick über den schieferfarbenen Ozean schweifen, über dem die Seemöwen auf und nieder gingen. Dann fiel ihr auf der rechten Seite etwas ins Auge – ein Schiff, das am Horizont aufgetaucht war –, und ehe sie sichs versah, stolperte sie direkt über einen der hüfthohen Tontöpfe mit einer Palme darin. Sie taumelte zurück, drehte sich auf dem Fußballen und fiel auf den Schoß eines Mannes. Dabei stieß sie auch noch einen Eiskübel um, in dem sich seine Champagnerflasche befand.
»Es tut mir so leid!«, rief sie und sprang auf.
Der Mann trug einen schwarzen Anzug und einen dunkelgrauen Hut, dessen Krempe sein Gesicht beschattete. Er wirkte recht blass und schien frisch rasiert zu sein; auf seiner linken Wange war noch eine kleine blutverkrustete Stelle, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte. Es war Hector Best. Er trug zwar noch immer seine Brille, aber in dem weich fallenden glänzenden Stoff seines schwarzen Anzugs und mit seiner hellen Krawatte wirkte er so ganz anders, beinahe lässig-elegant. Er stand auf, und Pearl ergriff seine ausgestreckte Hand.
»Miss Willis«, sagte er und schaute ihr direkt in die Augen. »Sie sehen wirklich wesentlich besser aus.« Er bot ihr seinen Arm an. »Würden Sie mich auf die Tanzfläche begleiten?«
Die Band spielte die zweite Strophe von Tea for Two . Pearl hatte nie tanzen gelernt, zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr das nun allerdings egal. Sie hakte sich bei ihm unter, und der Anstaltsleiter führte sie auf das Tanzparkett und legte sacht den Arm um ihre Taille. Sie wiederum legte ihre Wange auf das Revers seines Anzugs. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie ihre Mutter sie anstrahlte, als würde sie eine Heldentat begehen oder ein Wunder bewirken, wohingegen ihr Vater sie mit versteinerter Miene anstarrte.
Auf Claras Einladung hin besuchte Hector Best die Willis im Winter 1943 zweimal pro Woche. Er fand sich regelmäßig zum traditionellen Sonntagsbraten ein, und samstags begleitete er Pearl zu jedweder Art von Freizeitvergnügen, wonach immer ihr der Sinn stand. Ihr Gesundheitszustand verbesserte sich weiterhin, und der Anstaltsleiter erwies sich
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