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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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sieben großen Schlucken, legte sich auf die Matratze in dem Luftschutzkeller und hoffte, dass alles ein Ende nahm.

8
    Der Leiter der Nervenheilanstalt trug einen Mittelscheitel, seine glatten aschblonden Haare waren streng nach rechts und links zur Seite gekämmt. Als er sich nach vorne neigte, um Pearls Puls zu fühlen, konnte sie seine helle Kopfhaut am Scheitel deutlich erkennen. Auf der Nase trug er runde Brillengläser, die in einen Silberrahmen gefasst waren. Er wirkte jünger, als er wahrscheinlich war, denn sein Gesicht war nicht gebräunt und beinahe faltenlos, wie es bei Menschen ist, die sich überwiegend drinnen aufhalten. Er trug einen Tweedanzug und dazu eine braun-violette Fliege, die ein wenig schief an seinem Kragen saß. Sein Name war Hector Best, die offizielle Amtsbezeichnung des Arztes, der für die Geistes- und Nervenkranken Sydneys zuständig war, lautete Anstaltsleiter. Er gebot über zwei Einrichtungen: Eine befand sich im Bereich des Klinikgeländes im Stadtteil Darlinghurst, die andere war die Nervenheilanstalt Callan Park.
    Nachdem Aubrey seine Tochter bewusstlos im Luftschutzraum im Keller entdeckt hatte, tätigte er den ersten Anruf mit dem neuen Telefon. So konnte sie umgehend mit einem Krankenwagen ins St.-Vincent-Krankenhaus gebracht werden, wo ihr von zwei Ärzten der Magen ausgepumpt und ein Tropf gelegt wurde. Pearl dämmerte achtzehn Stunden lang unter dauernder Aufsicht im Koma vor sich hin, bevor sie wieder zu sich kam. Als sie die Augen wieder öffnete, wirkte sie keineswegs erleichtert. Sie starrte lediglich zur Decke, öffnete ihren Mund und schrie los – aber nicht etwa, weil sie Angst hatte, sondern weil sie noch immer am Leben war. Dem Krankenhauspersonal gelang es zuerst nicht, sie zu beruhigen, also wurde sie mit Morphium, Aspirin und kalten Umschlägen sediert.
    Einige Stunden später, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, erschien der Anstaltsleiter auf ihrer Station und setzte sich zu ihr aufs Bett. Er nahm ihr Handgelenk und umfasste es mit Daumen und Zeigefinger wie ein Armband. Anschließend sah er sich ihre Zunge an und testete ihre Reflexe. Er fragte sie nach ihren Essgewohnheiten, und Clara antwortete an ihrer Stelle, dass sie in letzter Zeit kaum noch etwas zu sich nahm; wie ein Vogel, wie ein Spatz pickte sie nur hier und da ein paar Bröckchen.
    »Haben Sie Angst zu sterben, Miss Willis?«
    Pearl wischte sich eine Haarsträhne aus den Augen, schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein, ich habe Angst davor weiterzuleben.«
    Der Anstaltsleiter runzelte die Stirn und maß ihre Temperatur. Er zog ein Stethoskop hervor und legte dessen kalte Metallscheibe auf ihr Herz. Seine Finger waren lang und geschmeidig, die Nägel kurz geschnitten und sauber manikürt, seine Hände glitten sanft wie Satin über ihre Rippen. Er leuchtete mit einer kleinen Lampe in ihre Augen, begutachtete ausführlich ihren Rachen, als hoffte er dort auf einen bedeutsamen Hinweis. Zum Schluss maß er ihren Schädelumfang und schrieb die Ergebnisse in ein kleines liniertes Notizbuch.
    Nachdem Hector Best seine Untersuchung beendet hatte, fragten ihn Aubrey und Clara, ob er wüsste, was mit ihrer Tochter nicht in Ordnung sei. Der Mediziner erwiderte ohne Umschweife in Pearls Gegenwart, dass sie an einer akuten Nervenkrise leide, hervorgerufen durch die Kriegswirren. Diese Fälle häuften sich im Augenblick, besonders bei jungen Frauen und älteren Menschen. Sie hätten eine übertriebene Angst davor zu sterben.
    »Gerade bei nervösen Erregungszuständen, Mrs Willis«, erklärte der Arzt, »verhalten sich Männer und Frauen wie zwei grundverschiedene biologische Arten. Männer zeigen dann ein aggressives Verhalten und gehen zum Angriff über, wohingegen Frauen sich so sehr beunruhigen, dass sie regelrecht auseinanderfallen.«
    »Sie war schon immer ein bisschen eigen«, sagte Clara und schielte zu Pearl hinüber, »aber zu so etwas wäre sie bisher nicht fähig gewesen.«
    Der Anstaltsleiter verordnete zwölf Wochen vollkommene Bettruhe und die Einnahme von Chininsulfat dreimal täglich. Er überwies sie zur weiteren Betreuung und Beobachtung ins Reception House, das war der Teil der Klinik im nahegelegenen Darlinghurst, der ihm unterstand.
    Um Pearls Behandlung zu unterstützen und eine Besserung zu beschleunigen, riet der Arzt Clara und Aubrey dringend, darauf zu achten, dass sie sich von jeder Art von Aufregung oder übermäßigen Aktivitäten fernhielt. Dass sie also abends

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