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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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vor, als sollten ihre wahren Gefühle einer Prüfung unterzogen werden, auf die sie sich überhaupt nicht vorbereitet hatte. Zwar kam sie sich nur noch wie die äußere Hülle ihres früheren Selbst vor, doch – daran bestand kein Zweifel – ihr Zustand hatte sich gebessert. Auch wenn sie den Verdacht hegte, dass dies lediglich auf die Einförmigkeit ihres gegenwärtigen Lebens zurückzuführen war und nicht auf irgendeine spezielle medizinische Behandlung. Schließlich nickte sie einfach.
    »Das ist sehr gut!«, sagte der Anstaltsleiter. »Ich denke, wir können damit die Behandlung hier im Reception House beenden. Ich würde Sie demgemäß gerne an Ihren Hausarzt Dr. Vincent Ward überweisen, den Sie einmal im Monat aufsuchen sollten.« Er schaute wieder in die Akte. »Nehmen Sie weiterhin das Chininsulfat, aber halbieren Sie von nun an die Dosis.«
    Der Anstaltsleiter las auf dem Krankenblatt weiter und zog dabei die Augenbrauen zusammen.
    »Sie haben ja bald Geburtstag«, bemerkte er. »Haben Sie da schon etwas geplant?«
    Pearl zuckte mit den Achseln. »Meine Eltern wollen mich zu Kaffee und Kuchen ins Coogee Bay Hotel einladen.«
    »Das ist reizend«, meinte er und drehte seinen Fuß, als sei das Gelenk ein wenig steif.
    »Ich wünschte, mein Bruder könnte mit dabei sein.« Pearl fuhr mit dem Finger auf dem oberen Rand des Glases entlang. »Es ist das erste Mal, dass wir unseren Geburtstag nicht gemeinsam feiern.«
    Hector Best schüttelte weise sein Haupt. »Das gehört eben auch zum Erwachsenwerden.« Und dann tat der Mediziner etwas höchst Ungewöhnliches und Unerwartetes. Er lehnte sich vor und strich ihr sanft über das Haar.
    Sobald Clara erfuhr, dass die Behandlung offiziell beendet war, meinte sie, es sei für Pearl nun höchste Zeit, sich an einer Sekretärinnenschule einzuschreiben oder sich eine Stelle als Verkäuferin in einem der umliegenden Geschäfte zu suchen oder sich vielleicht für den Militäreinsatz freiwillig zu melden. Doch Pearl wollte von alldem nichts wissen. Sie wollte nichts anderes als Musik spielen. Sie sehnte sich ausschließlich nach ihrem Saxofon, nach ihrem Geliebten und nach ihrem Bruder.
    Bald erwiesen sich die Vorschläge ihrer Mutter aber als obsolet. Zwei Wochen nach ihrer »Genesung« erhielt Pearl von der Militärverwaltung eine Aufforderung, sich unverzüglich als Zwangsverpflichtete für den Militäreinsatz zu melden.
    In gewisser Weise war dieser Brief ein Geschenk, denn er ersparte es ihr, selbst eine Entscheidung treffen zu müssen. Sie konnte sich dieser Arbeit nicht entziehen, genauso wenig wie kürzlich der Behandlung im Reception House; die Anweisung eröffnete ihr außerdem die Möglichkeit, das Elternhaus hinter sich zu lassen und unabhängig zu werden. Bei einem kurzen Vorstellungsgespräch gab man ihr drei verschiedene Stellen zur Auswahl: einen Posten bei Armstrong Steelo, eine Bürostelle bei der nationalen Rationierungskommission oder einen Arbeitsplatz bei A. Jordan and Company, die Armeehemden für die Alliierten nähten. Da Pearl keine Lust hatte, in der Stahlwolleproduktion zu arbeiten, und sich auch nicht mit Papierkram in einer Behörde herumschlagen wollte, entschied sie sich für das Dritte. Schon wenige Tage später saß sie in einer Fabrik inmitten von Bergen von Stoff, Knöpfen und dem Rattern von Nähmaschinen. Sie musste Brusttaschen auf Khakihemden nähen. Um sich bei diesem eintönigen Job etwas Abwechslung zu verschaffen, schrieb sie immer wieder kleine Zettel an die anonymen Soldaten, die diese Hemden tragen würden, und steckte sie in die Brusttaschen: »Herzlichen Dank für Ihren aufopferungsvollen Einsatz« … »Sind Sie weit weg von Ihrer Heimat?« … »Ich war früher einmal Jazzmusikerin«. Eines Tages erhielt sie als Antwort einen Brief von einem Australier aus Neuguinea: »Ich muss einen Weg finden, wie ich aus diesem Drecksloch hier herauskomme. Ich weiß nicht, was ich hier eigentlich soll.« Sein Name war Gefreiter Jack Stanley. Sie schrieben s ich weiterhin, jeder noch zweimal. Sechs Wochen später kam eine kurze, nüchterne Mitteilung von Stanleys bestem Kumpel, dass sein Freund bei Dschungelkämpfen in Neuguinea gefallen war.
    An Pearls neunzehntem Geburtstag war es ungewöhnlich warm, kleine Wölkchen jagten über den blauen Himmel, und eine Brise vom Meer trug den Geruch von Salz und Seetang heran. Auf dem Dach des Coogee Bay Hotel hörte man in regelmäßigen Abständen das sanfte gischtige Geräusch, wenn sich auf

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