Bis ans Ende des Horizonts
wie gelähmt, und es begann sie am ganzen Körper zu jucken. Sie blieb für den Rest des Tages im Bett und starrte auf die Rosengirlanden an der Stuckdecke ihres Zimmers.
Das Einzige, was ihre trübe Stimmung ein wenig aufhellte, waren die Postkarten aus den verschiedenen Küstenorten und Bergbaustädtchen, auf denen Martin des Öfteren mit aufgemalten Pfeilen auf die Stellen einer Uferpromenade oder auf einer Hügelkuppe hinwies, wo er und seine Einheit aufgetreten waren. Und kurz nach Neujahr erhielt sie einen Brief von Nora aus den Blue Mountains. Pookies Pfauenfarm erwies sich als wahre Goldgrube, schrieb sie; die Federn seien in gan z Sydney groß in Mode. Außerdem verriet sie ihr, dass ihr Liebster und sie sich kurz entschlossen in dem Bergbaustädtchen Lithgow hätten trauen lassen, denn inzwischen erwarte ten sie Nachwuchs und wollten nicht, dass sich ihre Familie und ihre Freunde mit unnötigem Gerede die Mäuler zerrissen.
Zweimal pro Woche ließ Hector Best Pearl nach ihrer Sitzung im Dampfkabinett im Reception House in sein Sprechzimmer rufen. Es war mit bequemen Ledersesseln möbliert und öffnete sich zu einem hellen Erker. Er fühlte ihr jedes Mal den Puls, maß ihren Blutdruck und hörte mit dem Stethoskop ihre linke Brust ab. Während dieser Untersuchung stellte er ihr offenbar belanglose Fragen, beispielsweise nach ihrer Lieblingsblume und ob sie gerne Parfum verwendete.
Jedes Mal ermahnte er sie wieder, mehr zu sich zu nehmen, und so gab sie sich zu Hause Mühe, größere Portionen zu essen, was ihr aber kaum gelang.
Nachdem Hector Best an einem Tag Ende Mai in der Sprechstunde ihr Herz abgehört, ihren Puls gefühlt und ihr Gewicht kontrolliert hatte, bat er sie, in einem der Ledersessel Platz zu nehmen, und bot ihr ein Glas Limonade an. Er verschwand für einen Moment und kehrte mit zwei gefüllten Gläsern zurück. Eines reichte er Pearl und ließ sich dann auf seinem Schreibtischsessel nieder. Anschließend nahm er ihre Krankenakte zur Hand und fragte sie, wie sie sich fühle.
Pearl rutschte ein wenig auf ihrem Sessel hin und her und wunderte sich, ob dies vielleicht irgendeine Art von Fangfrage war. »Mein kleiner Finger tut mir ein bisschen weh«, sagte sie und wackelte mit ihm. »Ich habe aus Versehen bei der Nagelpflege ein wenig zu tief hineingeschnitten.«
Der Anstaltsleiter lächelte sie kurz an und schüttelte dann den Kopf. Wie sie sich in ihrem Innern fühle, wolle er wissen. Wie sie ihr Allgemeinbefinden bezeichnen würde?
Sie verstand noch immer nicht, worauf er damit hinauswollte. Daher sagte sie einfach nichts und legte die gefalteten Hände in ihren Schoß.
»Fühlen Sie sich inzwischen insgesamt besser als, sagen wir, im Dezember, als wir mit dieser Therapie begonnen haben?«
»O ja.« Pearl nickte eifrig. »Ich schlafe jetzt viel mehr.«
»Und außerdem essen Sie deutlich mehr. Sie haben in den fünf Monaten acht Pfund zugenommen. Würden Sie sagen, dass Sie inzwischen etwas glücklicher sind? Sehen Sie die Dinge mittlerweile ein wenig gelassener?«
Pearl dachte einen Moment lang nach und beobachtete die Eiswürfel, die in ihrem Glas schwammen. Sie lief im Gesicht ein wenig rot an, denn sie fürchtete sich vor einem Gefühlsausbruch gegenüber dem Doktor, durch den sie ihm offenbarte, wie einsam sie sich fühlte. Wie sie von dem Gedanken an ihre verpatzte Musikerkarriere geplagt wurde und dass es nichts auf der Welt gab, worauf sie sich freuen konnte, und dass sie keine Ahnung hatte, was sie mit ihrem Leben nun anfangen sollte.
Stattdessen holte sie tief Luft und schenkte dem Arzt ein breites Lächeln. »Ihre Therapie hat meines Erachtens Wunder gewirkt, Herr Doktor. Ich fühle mich wie neugeboren.«
Im gleichen Augenblick fragte sie sich, wie sie dazu kam, so eine glatte Lüge von sich zu geben. Vermutlich, weil sie das Gefühl hatte, es sei genau das, was der Anstaltsleiter hören wollte, dachte sie sich. Als Hector Best seine hochgezogenen Schultern entspannte, seine überkreuzten Beine auseinanderstellte, fühlte sie sich in ihrer Einschätzung bestätigt. Er nippte an seiner Limonade und lächelte ein bisschen unsicher.
»Nun, Miss Willis, ich habe sie mir gründlich angesehen, ich meine, Ihre Akte, und, na ja« – er schaute nach unten auf die Blätter auf seinem Schoß –, »Sie haben wirklich gute Fortschritte gemacht. Exzellente Fortschritte sogar. Meinen Sie nicht auch?«
Auch jetzt war Pearl sich nicht sicher, was sie antworten sollte. Es kam ihr so
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