Bis auf die Haut
willst du gar nicht.
Ein älterer Mann betritt die Arena. Er trägt zwei längere Stäbe, die mit farbigen Papierstreifen geschmückt sind und lächerlich festlich wirken. Der Mann hält die Banderillas in beiden Händen und sticht sie dem Bullen rasch in die Schultern wie ein Dirigent, der eine Arie mit einer schwungvollen Schnörkelbewegung beendet. Das Tier gerät in Rage. Sein dickes, rotes Blut glänzt in der Hitze wie verschüttete Farbe, glänzt mit dem Schweiß um die Wette. Gabriel schreit mit allen anderen mit. Dir ist heiß. Du stellst dir vor, dass er schwitzt, willst ihm mit der Zunge über die Haut fahren. Durch deinen Bauch zucken kleine Blitze wie ein fernes Gewitter am Nachthimmel. Die Atmosphäre ist umgeschlagen, ist nicht mehr possenhaft. Das Baby in dir macht einen langsamen Purzelbaum, bedächtig wie ein Wal. Du legst deine Hand auf den Bauch, um es zu beruhigen: Gabriel weiß noch nichts davon. Dem Stier tritt Schaum vors Maul, er wird müde, du hörst ihn keuchen, siehst, wie er blutet, wie verwirrt er ist. Der Matador erscheint. Geradezu lächerlich, wie klein er ist. In düsteres Grau gekleidet wie ein Schauspieler, der einen Leichenbestatter spielt. Sein Penis wurde mit Klebeband an seinem Oberschenkel befestigt, die Hose sitzt hauteng, damit sich die Stierhörner nicht in loser Kleidung verhaken können, das hat dir Gabriel einmal erzählt, und du bist bei seinen Worten innerlich erzittert.
Am liebsten würdest du aufstehen und dir einen Weg zu ihm hinüberbahnen, in seinen engen kleinen Kreis einbrechen, doch du müsstest über zu viele Knie steigen. Dein Blick ruht auf ihm, während er sich gebannt dem Kampf hingibt. Dieselbe Intensität hast du an ihm schon beobachtet: in seiner Londoner Wohnung, wenn du den Ärmel deiner Bluse hochgeschoben hast, damit er deinen nackten Arm küssen konnte, wenn du ihm den Gürtel aufgemacht hast.
Der Matador lockt den Stier an, zwingt ihn, sich ihm zu nähern, ihn fast zu streifen. Die beiden kommunizieren miteinander, Mann und Stier, er redet mit dem Bullen, und du beugst dich vor, um die Worte aufzuschnappen, Gott weiß, wieso, du würdest ohnehin kein Wort verstehen. Das Orchester auf den Bänken neben dir spielt ein Zwischenstück wie ein träger Pianist bei einem Stummfilm. Der Stier schwenkt nun immer langsamer herum, es ist, als würde er vor deinen Augen altern. Gabriel hat dir erzählt, die Tiere wären nie älter als vier Jahre, doch dieser sieht älter aus und müder; vielleicht haben sie es bei diesem ländlichen Kampf nicht so genau genommen. Der Stier wittert seine Niederlage, seine Kräfte sind ausgelaugt. Der Matador, der ein kleines, spitzes Schwert hinter seinem Rücken verbirgt, dreht schöne Pirouetten und der Stier stellt sich wieder auf, greift erneut an und Gabriel brüllt mit der Menge mit. Das Ganze wirkt so einseitig, dass dir übel wird. Du reibst dir über den Bauch und denkst an das Leben, das in dir wächst; du stellst dir vor, wie auch dieses Leben in Panik gerät, sich nicht wehren kann, nicht die leiseste Chance bekommt. Ein Genuss ist das Ganze für dich nicht. Wenn Gabriel von der Corrida erzählte, hat er dir einen ganz anderen Eindruck vermittelt: eine Welt der Disziplin, der Kühnheit, der Schönheit. Aber was sich da vor dir abspielt, ist nur unendlich traurig; du bist wie betäubt. So etwas Feiges. Ermüdendes. Und so viel Leerlauf dabei: Beobachten, Warten, Taxieren, Keuchen.
Der Matador richtet sein Schwert mit erhobenem Arm auf den Stier und stößt es in den breiten Nacken des Tieres, dann wölbt er den Rücken zurück, kühn wie der Pinselstrich eines Kalligraphen. Der Bulle schäumt vor Wut, kämpft, sein großes Herz zerreißt. Blut strömt ihm aus dem Maul. Er bricht in die Knie. Plumpst auf die Seite. Hebt den Kopf im Todeskampf.
Du hast genug gesehen.
Die Flanken des Tieres heben und senken sich immer noch, es rollt mit den Augen, ein Blick entsetzten Nicht-fassen-Könnens: Wer sind diese Barbaren? Ein Dolch senkt sich hinter den Schädel in den Nacken und zertrennt das Rückenmark, und endlich, endlich fällt der angespannte Kopf nieder. Es ist vorbei. Die letzte Phase des Tötens war schwierig, ein so großes, kämpferisches Herz musste zum Stillstand gebracht werden.
Du schaust zu Gabriel hinüber. Du erhebst dich zu voller Größe, ragst hinter den stämmigen Männern auf, willst nicht mehr sitzen. Erst sieht er dich nicht, sieht durch dich hindurch, redet und lacht, legt den Arm locker um
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