Bis auf die Knochen
Ich verschr ä nkte die H ä nde vor der Brust in einer Geste des Gebets; einer Geste, deren Aufrichtigkeit er sicher erkannte. Vielleicht sah er es, vielleicht sah er die Trauer in meiner Miene oder die Tr ä nen, die mir ü ber die Wangen liefen, vielleicht wollte er auch einfach den Gottesdienst nicht unterbrechen. Jedenfalls wurden seine Z ü ge weicher, und er wandte sich wieder seinem Text zu. » O Gott der Gnade und der Herrlichkeit «, las er vor, » wir erinnern uns an diesem Tag vor dir an unsere Schwester Jessamine. Wir danken dir daf ü r, dass du sie uns geschenkt hast, ihrer Familie und ihren Freunden, um sie zu kennen und zu lieben als Gef ä hrtin auf unserer irdischen Pilgerschaft. In deinem grenzenlosen Mitleid tr ö ste uns Trauernde.« Er schaute nicht mehr zu mir auf, doch im Augenblick schien er mich direkt anzusprechen, bei all den vielen Menschen ganz allein f ü r mich zu sprechen.
Am Ende des Hauptgottesdienstes lud der Priester die Trauernden zu einer kurzen Trauerfeier auf dem Hof neben dem Mittelschiff ein. Dann hob er die Messingurne vom Altar und schritt das Mittelschiff hinunter.
Ich zog mich in das Gewirr aus Fluren und Treppen zur ü ck und bewegte mich blind in die Richtung, in die der Priester gezeigt hatte. Bald fand ich mich in einer gepflegten Eingangshalle direkt vor den Gemeindeb ü ros wieder; dann entdeckte ich am Ende eines langen, sonnigen Flurs Fenster, die auf einen umschlossenen Garten blickten. In der Mitte des Gartens war ein tiefliegender kreisrunder Hof, mit wei ß en und schwarzen Platten gepflastert, die ein labyrinthisches Muster bildeten, ein Symbol f ü r spirituelle Pilgerschaft. Auf einer Seite, in einem erh ö hten Beet mit Blumen und Funkien stand die Statue eines Engels, und in einer Ecke dieses Beets war ein frisches Loch gegraben, etwa drei ß ig Zentimeter im Quadrat. Der Priester stand dort mit der Urne, und die Menschenmenge war ihm gegen ü ber eng zusammenger ü ckt. Unter ihnen erkannte ich Preston Carter, und ich sah auch die Frau, die ich auf den ersten Blick als Jess’ Mutter identifiziert hatte. Sie hielt den Kopf hoch, fast herausfordernd – auch darin erkannte ich Jess wieder –, doch ihr Gesicht verriet, wie viel diese Demonstration der St ä rke sie kostete. Sie hielt sich von Carter fern, was ich als Zeichen daf ü r deutete, dass sie ihm das, was f ü r den Riss zwischen ihm und Jess verantwortlich war, nicht verziehen hatte.
Der Priester begann zu sprechen, und ich kroch zu einem Fenster, um seine Worte zu verstehen. Ich erreichte es gerade fr ü h genug, um zu sehen, wie er den Inhalt der Urne in die Erde sch ü ttete. Er richtete sich auf und dann hob er beide H ä nde in einer Geste des Segnens. » In der sicheren Hoffnung auf die Auferstehung zum ewigen Leben durch unseren Herrn Jesus Christus «, sagte er, » empfehlen wir Gott dem Allm ä chtigen unsere Schwester Jessamine und ü bergeben ihren Leib der Erde. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Der Herr segne sie und beh ü te sie, der Herr lasse sein Angesicht leuchten ü ber ihr und schenke ihr seine Gnade, der Herr erhebe sein Angesicht auf sie und gebe ihr seinen Frieden. Amen.«
» Amen «, fl ü sterte ich. » Schlaf gut, Jess.«
36
Ich schob mich aus der Seitentür der Kirche, schaffte es unentdeckt – und, was noch wichtiger war, ohne verhaftet zu werden – zur ü ck zur Broad Street und war gerade f ü r die traurige R ü ckfahrt in den Taurus gestiegen, als ich eine leise, vertraute Stimme h ö rte. » Sie reden nicht mit mir? « Miss Georgia war in einem ä rmellosen, wadenlangen schwarzen Kleid herausgeputzt, das ihren gertenschlanken K ö rper gleicherma ß en bedeckte wie umwerfend verpackte. Am Ausschnitt ein Hauch von Dekolleté, eine Unartigkeit, die durch ein tiefschwarzes Netzgewebe, das vom Ausschnitt bis zum Hals reichte, irgendwie sowohl untergraben als auch betont wurde. Gekr ö nt wurde das Outfit von einem Paar schwarzer Handschuhe und dem breitkrempigen Hut, den ich in der Kirche gesehen hatte, verziert mit einem B ü schel schwarzer Federn. Miss Georgia hob einen Pfennigabsatz auf das Trittbrett, und dabei glitt im Kleid ein langer Schlitz auf und entbl öß te den Rand des Strumpfes, ein Strumpfband und ü ber dem Strumpf mehrere Zentimeter nackter Haut. Es war ein eleganter, weiblicher Oberschenkel, und es erstaunte mich von neuem, daran zu denken, dass Miss Georgia eigentlich gar keine Frau war. » Dr. Bill, das mit Ihrer Freundin
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