Bis auf die Knochen
kniete mich hin und untersuchte F üß e und Beine auf Spuren von Raubtierbissen, doch ich fand keine – auch das war genau wie bei dem Opfer aus Chattanooga. Alles, was ich sah, waren Maden, die um die wenigen Gewebereste an den unteren Extremit ä ten zu kabbeln schienen.
Wir hatten eine Infrarotkamera auf ein Stativ gesetzt, auf die Leiche gerichtet und an einen Bewegungsmelder angeschlossen, sodass wir ein Foto erhalten w ü rden, falls es einem Nachttier gelang, den Zaun zu ü berwinden und sich an der Leiche zu schaffen zu machen. » Haben Sie die Kamera ü berpr ü ft? « Miranda nickte. » Hat irgendetwas sie ausgel ö st? «
» Nein. Keine einzige Kreatur hat sich ger ü hrt, nicht mal eine Maus.«
Ich stand auf und untersuchte das Gesicht genauer. Ich musste leicht in die Hocke gehen, um einen richtig guten Blick auf den herabh ä ngenden Kopf zu haben. Dabei fiel eine winzige Made auf meine Wange. Und dann noch eine. Und noch eine. Ich machte einen Satz r ü ckw ä rts, sch ü ttelte wie ein nasser Hund den Kopf und fuhr mir dazu noch mit den H ä nden durchs Gesicht. » Wuff «, sagte ich. »Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum der Oberk ö rper und die F üß e in so unterschiedlicher Geschwindigkeit zersetzt werden.«
» Ja? «
» Ja. Sobald die Eier der Schmei ß fliegen ausschl ü pfen, fallen die Maden runter. Es gibt keine gute waagerechte Oberfl ä che, wie etwa wenn eine Leiche auf dem Boden liegt.« Ich zeigte auf die F üß e. » Sie fallen da hin, und die F üß e sind leicht zu erreichen. Einige schaffen es, die Kn ö chel hochzukrabbeln, und ein paar schaffen es sogar halbwegs die Unterschenkel rauf. Doch je h ö her man schaut, desto weniger Maden sieht man.«
Miranda beugte sich vor, doch nicht so weit, dass sie unter den aus dem Kopf der Leiche rieselnden Regen von Maden geriet. » Sie haben recht «, sagte sie. » Man k ö nnte die Verteilung als asymptotische Kurve zeichnen. Wenn X – die Entfernung zum Boden – steigt, f ä llt Y – die Anzahl der Maden – von fast unendlich auf fast null.«
Ich starrte sie an. » Asymptotische Kurve? Was sprechen Sie da f ü r eine Sprache? « Sie starrte, verwirrt ü ber meine Verwirrung, zur ü ck, dann brachen wir gleichzeitig in Lachen aus.
» Okay, ich geb’s zu: Ich bin inzwischen ein ziemlicher Zahlenfreak «, sagte sie. » Aber es ist eine h ü bsche Kurve, und eine klassische Asymptote noch dazu.« Sie hob einen Zeigefinger hoch ü ber den Kopf, zog eine fast vertikale Linie nach unten und schwang sie dann sehr sanft und sehr elegant in Richtung Horizont.
» Sehr h ü bsch, in der Tat «, stimmte ich ihr zu. » Sie k ö nnten wahrscheinlich einen Aufsatz dar ü ber im Journal of Forensic Sciences ver ö ffentlichen. Besonders wenn Sie ein Video von sich selbst hinzuf ü gen, wie Sie die asymptotische Kurve in die Luft zeichnen.«
Sie schnitt eine Grimasse. » Essen Sie Maden und sterben Sie «, sagte sie.
Ich starb nicht, doch pl ö tzlich juckte mir ü berall der Kopf.
11
Es klopfte leise an meinen Türrahmen, und eine Millisekunde sp ä ter – bevor ich Zeit hatte aufzuschauen – sagte eine weibliche Stimme: » Klopf, klopf.«
» Herein.« Ich schaute immer noch nicht auf. Ich war gerade dabei, etwas auf eine schriftliche Arbeit eines Studenten zu notieren, und wollte den Satz beenden, bevor ich die zweite H ä lfte verga ß . Als ich den Punkt an Ort und Stelle setzte, erkannte ich, dass die Stimme mir vertraut war, dass ich es jedoch nicht gewohnt war, sie hier in den sch ä bigen R ä umen der Stadium Hall zu h ö ren.
Ein Blick, und ich wusste, warum ich so verdutzt war. Die Stimme geh ö rte Amanda Whiting, und ihr war ich bisher nur in den walnussholzget ä felten Grenzen des Speisesaals des Pr ä sidenten der University of Tennessee und des ä hnlich verkleideten Inneren seines Hauses begegnet.
» Oh, oh «, sagte ich. » Ich muss ja m ä chtig tief in der Patsche stecken, wenn Sie sich hierher aufgemacht haben, um mich zu suchen.« Amanda war Vizepr ä sidentin der University of Tennessee und dar ü ber hinaus auch deren Chefanw ä ltin, die umtriebigste Rechtsverdreherin der Universit ä t. » Was habe ich diesmal getan? Ich habe mir alle M ü he gegeben, in der Vorlesung nicht mehr so viele schmutzige Witze zu erz ä hlen. Ehrlich, ich hab’s versucht.«
» Ich w ü nschte, es w ä re so simpel wie ein Studierender, der sich von Ihrem Neandertalersinn f ü r Humor beleidigt f ü hlt «, sagte sie. » Es
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